Fliegen, fliegen über das Land

                                       


 
 
Leseprobe

Roman aus der Club- und Musik-Szene


 
 
 
 

Klappentext: Der Roman spielt in der freien Club- und Musik-Szene einer Großstadt. Raphaela, Raimund und Moses eröffnen einen Musik-Club, den sie Café Nirwana nennen. Raphaela ist nymphoman, Raimund Spontan-Poet und Moses der raffinierte Sohn eines Geschäftsmanns. Ihr Studium lassen die drei links liegen, sie stürzen sich ins Club-Leben mit queren Beziehungen, krummen Geschäften und Musik nach ihrem Geschmack.
 
Das wilde Leben im Café Nirwana zieht Musiker einer Band an, die, ähnlich wie Kraftwerk vor 40 Jahren, elektronische Popmusik spielen. Zunächst noch ohne Gesang. Raimund erfindet dazu Texte und Ulf der Keyboarder beginnt zu singen. Studioaufnahmen, Auftritte, Welterfolg und Absturz ins Bodenlose...

Die Geschichte ist erfunden, tugendfrei und jugendfrei, aber die Schilderung der Szene ist authentisch. Ein Blick hinter die Kulissen. Der Autor hat in Aachen und in Köln selber Musik-Clubs eröffnet, und in London LPs und CDs mit deutschen Songs produziert, die auf Independent-Labels in London, New York, Frankreich, Deutschland und Tokio veröffentlicht sind.

 

Kapitel 01 von 60
Der unmögliche Mann

Raf war ein wenig nymphoman. Nicht, dass man ihr gleich etwas angesehen hätte. Nein, sie sah nicht bleich aus, hatte keinen Schlafzimmerblick, keine Model-Figur, keine Film-Frisur und war auch nicht aufreizend gekleidet. Sie hatte sich behaglich eingepackt in eine blaue Winterjacke und ihr Gesicht strahlte Wärme aus. Als sie aus der Bäckerei kam, hätte jeder sie für eine Tochter des Hauses halten können. Raf sah frisch und appetitlich aus wie ein gut gebackenes Dinkelbrötchen.
 
Eigentlich hieß sie Raphaela und wurde von Freunden und Verwandten auch oft so genannt. Das klingt vornehm und respektvoll. Sie selber redete sich manchmal in Gedanken auch so an:
Raphaela, sagte sie streng zu sich selbst, du müsstest dich mal wieder um dein Studium kümmern. Sie studierte an der Uni Pädagogik und Romanistik. Aber in letzter Zeit hatte sie ihr Studium beinahe vergessen. Ihr jüngerer Bruder Bernd behauptete frech, sie studiere gar nicht, sie suche an der Uni nur Männer, einen nach dem anderen. Der Bruder war noch Schüler, hatte aber schon mitgekriegt, dass sie sich besser mit männlichen Kommilitonen auskannte als mit Professoren.
 
Vom Heiraten war Raf weit entfernt. Der Mann, der sie für immer zufrieden stellen könnte, war offenbar noch nicht geboren. Er müsste sportlich und sehr intelligent, noch jung, aber reif und doch ein wenig freakig sein. Er sollte aus der Nähe und, wichtiger noch, aus der Ferne gut aussehen. Er könnte etwas exotisch wirken, aber nicht abgefahren, sondern beinahe normal mit einer starken erotischen Ausstrahlung. Und vielleicht blond. Oder dunkel, das wäre jetzt egal, aber nicht so riesengroß. Sie wollte sich doch nicht wie ein Püppchen auf die Zehenspitzen stellen. Im Liegen war das alles egal, aber ihr Lieblings-Mann sollte auf jeden Fall kein Riese sein, nur etwas größer als sie selbst und vielleicht etwas größer als andere Männer.
 
Rafs Traum-Mann müsste vor allen Dingen locker reden können und, wichtiger noch, gut zuhören. Auch schweigend zuhören; denn sie redete selber gerne und selten war es Geplapper. Wenn der Aufmerksame ihr dann lange genug gelauscht hätte, dürfte er sie langsam mit beiden Armen an sich ziehen und direkt auf den Mund küssen, völlig ohne Grund. Sie machte das manchmal genau so mit Männern. Sie würde dann eine oder zwei Sekunden lang zufrieden lächeln und gleich wieder los reden.
 
Es ist ein Glück, dass Raphaela diesen unmöglichen Mann noch nicht gefunden hat, ein Glück für alle anderen; denn sie hatte viele hoffnungsvolle Freunde. Die besuchte sie gerne bei ihren Rundgängen, sie lernte ihre Wohnungen und Häuser kennen und blieb vielleicht ein paar Tage. Bei einigen kam sie auch gelegentlich wieder. Dann war es beinahe so, als sei sie nie fort gewesen.
 
An diesem Morgen schlenderte Raf durch die Innenstadt, über Seitenstraßen, an den hinteren Eingängen von Straßencafés und kleinen Hotels vorbei, zwischen versteckten Parkplätzen und intimen Frisier-Salons. Dabei schaute sie die Häuser links und rechts der Straße sehr genau an. Fast wie eine Maklerin.
 
Der Beruf einer Maklerin würde nicht schlecht zu mir passen, dachte sie, ich finde immer unentdeckte Wohnungen, genau wie neue Bekanntschaften. Als Maklerin würde ich auch keinen Ärger mit den Kindern anderer Leute haben. Das kommt aber auf mich zu, wenn ich Pädagogik zu Ende studiere. Darauf läuft ja alles hinaus. Oh Gott, oh Gott!
 
Sie schob diesen Gedanken an eine Existenz als Lehrerin gleich wieder beiseite und öffnete so den Vorhang für einen überraschenden Seitensprung ihrer Lebensgeschichte. Es zog sie dahin, wo Frauen und Männer sich begegnen: Lokale mit guter Musik, lockere Szene, vogelfreie Wohnungen, große Betten, verwirrende Beziehungen. Und ehe sie sich der Konsequenzen bewusst wurde, war sie auf einmal Inhaberin eines stadtbekannten Musik-Clubs und ein Jahr später schon beinahe eine halbe Witwe.
 
Doch halt! Heute war sie Maklerin auf der Suche nach einer geräumigen und trotzdem preiswerten Wohnung für eine ganz bestimmte Klientin: Raphaela Krantz. Sie wollte eine Bleibe für sich selber finden, die ihren Vorstellungen von Gastfreundschaft entsprach: groß und gut erreichbar, nicht versteckt, nein, mitten in der Stadt, nicht weit von der Uni und auch nicht weit vom Zentrum entfernt, also ungefähr hier, wo sie jetzt mit Händen in den Taschen ihrer Jacke und selbstbewussten Drehungen entlang spazierte.

02
Restaurant "Rhodos"

Langsam schob Raphaela sich durch die Häuserschlucht und drehte den Kopf in alle Richtungen. Da drüben war doch was, Ecke Brinkgasse, zur Weststraße hin, da stand auf der ersten Etage eine Wohnung leer. Direkt über einem griechischen Restaurant.
 
Raf überquerte die Straße und ging auf der gegenüber liegenden Straßenseite ein paar mal hin und her. Über dem griechischen Lokal hatte sie vier große Fenster ohne Gardinen entdeckt, zum Glück auch noch ohne das Schild einer Maklerfirma.
 
Die Wohnung steht wohl deshalb leer, dachte sie, weil nicht jeder über so einer Gaststätte wohnen will. Mir wäre das ziemlich egal, ich gehe doch selten vor zwei Uhr ins Bett und das da ist ein schönes, altes Haus mit Fensterbänken aus Granit und einer rot gestrichenen Fassade.
 
Entschlossen steuerte sie auf das Restaurant mit dem griechisch stilisierten Schriftzug "Rhodos" zu. Der Eingang befand sich genau auf der Ecke des Gebäudes. Es roch muffig in dem Lokal. Der geräumige Gastraum fügte sich in Form eines großen "L" um den inneren Teil der Räumlichkeiten. Rechts war eine lange Theke, gegenüber der Theke eine breite Sitzbank. Links öffnete sich ein fast quadratischer Speiseraum mit zahlreichen Tischen. Das Restaurant war groß, aber noch leer um diese Zeit.
 
Durch einen Türbogen, der wohl zur Küche und zu den sanitären Einrichtungen führte, schlurfte ein Mann mit grauen Haaren und einem etwas schläfrigem Blick. Er schien Raf instinktiv nicht für einen Gast zu halten und blickte sie überrascht an.
"Hallo? Was wollen Sie?", fragte er, ohne näher an sie heran zu treten.
"Ja, guten Tag. Sagen sie mal, wem gehört die Wohnung über dem Lokal?"
"Warum fragen sie das?"
"Die Wohnung steht leer."
"Das sieht nur so aus", entgegnete der Mann, "sie steht nicht leer."
"Wer wohnt denn da oben?"
"Ich. Ich bin der Wirt", sagte er und kaute ein wenig in seinem Mund herum. Es schien, als wollte er sich noch genauer ausdrücken und wüsste nicht, wie er anfangen sollte.
"Ich bin gerade dabei, auszuziehen."
 
Raf witterte eine Chance, die Wohnung zu bekommen, und fragte ihn weiter aus: Die Wohnung oben gehörte zum Restaurant. Der Wirt war so gut wie pleite und wollte am liebsten raus aus dem Objekt. Er hatte wohl auch schon eine neue Wohnung, aber man ließ ihn nicht aus dem Vertrag. Dabei zahlte er offenbar keine Miete. Er verdiente im Augenblick aber auch nichts mit dem Lokal. Wie das möglich war, verstand Raf noch nicht. Vermieterin der Wohnung und gleichzeitig des Lokals war eine GmbH namens GEBEGO. Die wollten, dass der Wirt so lange noch in dem Objekt blieb, bis ein neuer Inhaber gefunden wäre. Der oder die sollte dann gleichzeitig die Gasträume und auch die Wohnung auf der ersten Etage übernehmen.
 
"Die Wohnung kann ich also nur bekommen, wenn ich auch das Restaurant übernehme?" Das fragte Raf, um sicher zu gehen, dass sie richtig verstanden hatte. Als der verschlafene Wirt darauf deutlich mit dem Kopf nickte, ging sie auf ihn zu und reichte dem verdutzten Mann die Hand:
"Ich heiße Raphaela Krantz, ich interessiere mich dafür."
 
Erst jetzt wurde der Griechenwirt richtig wach! Denn er wollte so schnell wie möglich raus aus diesem Objekt. Irgendwann musste für ihn Schluss sein mit dem Frust. Er wurde vertraulich, führte sie durch die Gasträume und stieg vor ihr die Treppe hoch zur Wohnung. Da stand nur noch ein einzelnes Bett. Der Wirt zeigte ihr auch die Nebenräume: Toiletten, Küche, Keller, ein kleines Lager mit Getränke-Kisten. Und gleich gab er ihr die Telefon-Nummer der Firma GEBEGO, die das Restaurant Rhodos in der Hand hatte.
 
"Möchten sie etwas trinken?", fragte er dann ein wenig zuversichtlicher.
"Nein danke, nicht heute, ich muss weiter. Ich lass von mir hören."
Als sie wieder draußen auf der Straße stand und einen Blick zurück warf, sah das Lokal schon ein wenig freundlicher aus. Reklameschilder blinkten schwarz und golden an der Hauswand und oben in der Wohnung hatte Raphaela selbst eins der großen Fenster zum Lüften geöffnet.

03
Ein versierter Partner

Und Raf dachte nach. Dabei ging sie im Kopf eine Liste von Freunden, Bekannten und Liebhabern durch, ohne zwischen diesen Kategorien einen klaren Unterschied zu machen. Sie könnte das Lokal nicht alleine übernehmen, das wusste sie, aber mit einem oder zwei Partnern...
 
Als erstes kam ihr Markus Mühlhaus in den Sinn. Ein Super-Typ! Doch halt! Der Markus ist sich zu schade für so etwas, der will doch nichts mit einer Kneipe zu tun haben! Wie wäre es denn mit Raimund? Hatte Raimund ihr nicht einmal erzählt, dass seine Mutter eine Gastwirtschaft besaß? Raimund Langhard wäre bestimmt nicht abgeneigt. Er war doch praktisch veranlagt und wie Raphaela in dieser Stadt aufgewachsen. Und Raimund hatte einen Motorroller mit einem echten Pferdesattel drauf als Sitz. Das sah im Sommer sehr wild aus, wenn sie oder eine andere Begleiterin hinter ihm auf dem Pferdesattel saß. Aber das hatte alles nichts damit zu tun. Raimund wäre der richtige Mann, so eine Sache anzupacken.
 
Sie fingerte an ihrem Handy.
"Aber hallo", meldete sich Raimund.
"Ach Rai, ich bin's."
"Hei Raf, so früh auf den Beinen?"
"Immer unterwegs. Bist du zu Hause?"
"Klaro, ich komm gerade aus der Dusche."
"Ich bin ganz in deiner Nähe."
"Willste mich abtrocknen kommen, Raphaela?", fragte er frech. Sie schaltete das Handy einfach aus. Was sollte sie auf so eine dumme Frage auch antworten?
 
Bis zu dem schäbigen Haus, in dem Raimund wohnte, ging sie knapp zehn Minuten. Als sie dann in der Tür stand, begrüßten die beiden sich mit Freundschaftskuss. Seine dunkelblonden Haare waren noch feucht, die Haut im Gesicht vom Duschen gerötet und das blaue Safari-Hemd hatte Raimund noch nicht ganz zugeknöpft.
 
Raphaela schnupperte aufmerksam in der Luft herum und zog ihre blaue Jacke aus. Ihr kompliziertes Anforderungsprofil an das männliche Geschlecht hatte sie augenblicklich vergessen. Sie roch die Frische seiner Haut, küsste ihn noch einmal und öffnete dabei gleich das Gehege ihrer weißen Zähne. Dann kickte sie die Schuhe weg und löste mit beiden Händen ihre silberne Halskette.
 
Raimund ließ seine frisch geduschten Hände vorsichtig über ihre feine Bluse gleiten und tastete nach Knöpfen und Verschlüssen. Raphaela leistete keinen Widerstand, sie ließ sich von Raimund den Metallknopf an ihrer Jeans öffnen und zog selber den messingfarbenen Reißverschluss.
 
Dann hängte sie ihre Sachen ganz ordentlich über einen Stuhl und huschte ins Bett. Unter den Decken war es noch warm. Mit einem schiefen Lächeln konnte Raimund alles, was er zu ihrer Begrüßung angezogen hatte, wieder ausziehen. Dann schob er sich raumsparend neben sie und bewunderte respektvoll ihren mit Spitzen besetzten Büstenhalter, passend zum Slip in der Farbe von rotem Bordeaux. Diese reizvollen Textilien wurden mit Geplapper und Geschmuse und vorsichtigen Berührungen erst sanft gelockert, dann verschoben und allmählich abgestreift. Raimund begrüßte ihre Brüste mit den Lippen. Und nachdem Raf sich von Kopf bis Fuß warm gekuschelt hatte, sagte sie:
 
"Buh, Rai, was ist es draußen ungemütlich, aber du hast schöne warme Hände." Er wusste genau, was er mit seinen Händen zu tun hatte. Raf war in der Liebe anspruchsvoll und mochte keine Männer, die sich wie Elefanten benahmen und sich gleich mit vollem Körpergewicht auf sie drauf warfen. Sie verlangte Respekt von den Männern. Aber wenn es dann weiter ging, war sie kaum noch zu bremsen, gab keine Ruhe, bis sie nicht zwei mal gekommen war. Wer das nicht bringen wollte oder konnte, den ließ sie von da an einfach abblitzen.
 
Raimund war an diesem grauen November-Morgen gut aufgelegt, er hatte ein selbstgemachtes Müsli gefrühstückt und war auch schon erfahren im Umgang mit Raphaela. Ihr überraschender Besuch hatte ihm Laune gemacht. Und ehe er sich in ihre unerschöpfliche Gefühlswelt hinein gleiten ließ, neckte er sie mit einem seiner falschen Sprüche:
 
Wenn ich dir's heute kann besorgen,
dann verschieb es nicht auf morgen!

 
"Ja, nein", lächelte Raphaela zufrieden und ließ ihn kommen.
 
Raimund war nicht immer so umgänglich wie an diesem Morgen. Er konnte ganz schön versponnen sein. Dann lag er stundenlang auf dem Rücken und grübelte über die Schlechtigkeit in der Welt nach. Oder er saß am Schreibtisch und philosophierte mit Arthur Schopenhauer über die Unbelehrbarkeit der Professoren und der Frauen. Davon war Raphaela natürlich ausgenommen. Tage lang trickste Rai auch an seinen Computern herum. Er hatte mehrere Internetseiten und Blogs am Laufen, programmierte Rhythmen auf seinem Mac und dachte sich verrückte Reime aus, die für ihn einen tieferen Sinn ergaben.
 
Dass er eigentlich Biologie studierte, hatte er gegenüber Raphaela eigentlich nie erwähnt. Sein Studium spielte zur Zeit keine entscheidende Rolle, ist auch nicht wichtig für die ganze Geschichte, die sich dann im Hause Rhodos und in der darüber liegenden Wohnung an der Weststraße abspielte.
 
Jetzt befand sich in diesen Räumen noch ein griechisches Restaurant, der Inhaber war ein frustrierter alter Wirt, der auf die Lösung seines Vertrages mit der dubiosen Firma GEBEGO wartete.

04
Cocktails für durstige Frauen

"Hast du endlich eine Wohnung gefunden?", fragte Raimund, als Raphaela einigermaßen befriedigt neben ihm unter der wuscheligen Bettdecke lag.
"Ich finde es bei dir hier sehr gemütlich", lächelte sie. Dabei schaute sie ihn von der Seite an und spekulierte, wie er reagieren würde.
"Du kannst ruhig ein Weilchen hier bleiben, wenn du willst", sagte Rai und schaute ihr in die Augen ohne mit einer Wimper zu zucken. Das Spielchen hatte er durchschaut und sie küsste ihn wegen der freundlichen Antwort auf die Wange. Dann redete sie auch schon weiter, fast noch mit den Lippen an seinem Gesicht.
"Rai, ich hab eben eine tolle leerstehende Wohnung entdeckt! Aber die Wohnung gehört zu einem griechischen Lokal. Wenn du mit mir da eine Kneipe oder so etwas aufmachst, dann kriege ich oben die ganze Wohnung."
"Mal langsam. Was ist denn das für ein Lokal?"
"Der Laden heißt Rhodos. Ein ziemlich großes Restaurant und es liegt an der Ecke Weststraße zur Brinkgasse, neben der Bäckerei."
"Ach so, ich kenne die Gegend. Das wär doch 'ne gute Lage für'n Studentenlokal. Man könnte daraus 'nen Musik-Club machen oder so was!"
 
Raf sagte ausnahmsweise gar nichts und ließ ihn nachdenken. Raimund war einer von den Studenten, die sich ihren Lebensunterhalt selber verdienen mussten und die Zeiten für Studenten-Jobs waren schlecht. Eine Kneipe oder ein Abend-Lokal zu übernehmen, das würde ihn schon reizen und er glaubte, auch ein wenig Ahnung von dem Geschäft zu haben. Doch Vorsicht war geboten! Viele Cafés, Musik-Clubs und Kneipen gehen schnell wieder Pleite und zwar aus Gründen, die vom Inhaber gar nicht beeinflussbar sind. Die Mieten sind zu hoch, die Lage zu schlecht, die Konkurrenz zu groß. Die Lokale werden trotzdem immer weiter vermietet und neu eröffnet und die Inhaber, die sich mit zehn- oder zwanzigtausend Euro selbständig gemacht haben, verlieren ihr Geld und kommen mit Schulden wieder raus.
 
Raimund dachte an all die Fallen und Fußangeln in diesem Geschäft und fragte:
"Warum ist dieses Restaurant Rhodos, mit seinen großen Räumen und der schönen Wohnung, denn wieder zu vermieten?"
"Kann ich dir nicht sagen, Rai. Ich hab davon keine Ahnung. Das Lokal sieht von außen gut aus, aber es riecht muffig. Und der Kerl, der da drinnen wirtschaftet, der ist auch muffig. Das Objekt gehört zu einer Gesellschaft, also einer Art Brauereibetrieb... warte mal..." Raphaela hüpfte, so wie sie war, aus dem Bett und nahm aus ihrer Jackentasche ein Gummiband, mit dem sie ihre rötlich-blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammenzog, und dann suchte sie in ihren Sachen nach der Adresse.
 
Raimund betrachtete sie von unten bis oben, wie sie mit dem Zettelchen in der Hand zum Bett zurück kam. Er schaute auf ihre wohlgeformten Beine und seine Blicke glitten weiter hoch auf das verlockende Dreieck mit den munter gekräuselten Härchen. Die hatten fast die gleiche rötliche Farbe wie ihr prächtiger Haarschopf.
Die Raf ist wirklich von Kopf bis Fuß eine gute Partie, dachte er. Sie reichte ihm das Papierchen mit der Adresse und huschte wieder unter die Bettdecke.
Brauerei Becker, stand da, Oswald Becker,
GEBEGO, Gesellschaft zur Bewirtschaftung gastronomischer Objekte... Und dann folgte die Telefon-Nr.
"Aha", murmelte Raimund, "die Brauerei Becker steckt dahinter. Nicht gerade ein Premium-Bier, aber egal. Wir müssten für so ein Projekt auf jeden Fall noch ein oder zwei Leute dabei haben, die mit uns im Team arbeiten." Raimund wurde geschäftlich. "Sonst wird es für uns zu stressig. Aber mit dir und ein oder zwei anderen Leuten hätte ich vielleicht Lust. Ich brauch momentan 'nen Job, der richtig was einbringt. Zum Glück weiß ich, wie das mit so 'nem gastronomischen Betrieb läuft. Meine Mutter hatte ein Restaurant. Ich bin da drin aufgewachsen, hab quasi das Bier mit der Muttermilch eingesogen."
 
Das wusste Raphaela bereits. Darum hatte sie sich ihn ja für diesen Plan ausgesucht. Und er machte auch gleich ein paar konstruktive Vorschläge:
"Wir machen, wenn wir das Objekt bekommen, aus dem Lokal 'nen Musik-Club. Nur abends geöffnet und ständig Musik mit gutem Sound, kräftige Anlage, aber kein Essen. Essen ist viel Arbeit und es gibt Konkurrenz aus Asien. Wir machen höchstens belegte Brötchen oder Baguette und Schmalz-Schnitten, sowas, das reicht, aber scharfe Cocktails für durstige Frauen!"
"Und 'ne attraktive Wirtin hinter der Theke", ergänzte Raphaela. Er kitzelt mit der Hand ein wenig an diesen rötlich gekräuselten Härchen herum. Raf sah das als Bestätigung an und genoss das leichte Prickeln, das die Berührung seiner Fingerspitzen auslöste.
"Mit mir kannst du rechnen, Raimund, das weißt du doch." Sie schob noch einmal ihr Knie unter sein Bein und ließ ihn fühlen, dass sie noch warm und feucht war. Die beiden brauchten nicht lange, bis Raf an diesem ausgesprochen unfreundlichen November-Morgen zu ihrem zweiten Gefühlsausbruch kam.
 
Während Raimund noch ein wenig keuchte und dann allmählich wieder gleichmäßig durch atmete, kam Raphaela auf das Thema Rhodos zurück.
"Kennst du den Moses Morgenstern?"
"Natürlich, der Moses, das ist doch dieser blonde Typ aus Frankfurt, mit dem schwarzen Auto, ich seh' den in allen Diskotheken."
"Ja, genau. Den will ich fragen, ob er bei der Sache Rhodos mit macht."
"Hat der nicht Kohle genug?", wunderte sich Raimund, "der läuft doch in Designer-Klamotten herum. Vielleicht hat er es gar nicht nötig, regelmäßig in einer Art Abendlokal zu arbeiten."
"Nein Rai, der Moses ist aktionsgeil. Ich weiß das. Und er hat ein Auto. Das kann nicht schaden. Der versteht auch was von Geschäften. Bis vor kurzem hat er in den Diskotheken mit XTC gedealt, das hätte er auch nicht nötig gehabt, wegen der Kohle."
"Aber Scheiße! Dann haben wir doch direkt die Bullen am Hals!"
Raf lachte ihn aus.
"Rai, wenn wir zwei da 'nen Club oder so was auf machen, dann kommen die Bullen sowieso. Das Polizei-Präsidium ist in der Nähe der Weststraße. Ich werde mich jedenfalls mal um den Moses kümmern." Und sie dachte sich, mit Moses hätten wir wenigstens einen Partner, der Geld hat, das kann bei so einem Plan nur von Vorteil sein.
 
Inzwischen war sie mit ihrem unergründlichen Lächeln um den Mund schon wieder aufgestanden und hatte sehr sorgfältig ihren Spitzenslip, die Netz-Strumpfhose und den BH in der Farbe von dunkelrotem Bordeaux angezogen. Es war für Raimund bei diesem Anblick nicht schwer zu erraten, was Raphaela anstellen würde, um auch Moses Morgenstern für ihren Plan zu gewinnen.
"So bald wie möglich", hatte der griechische Wirt im Restaurant Rhodos gesagt. Und Raf hielt sich an diese Vorgabe.
 

05
Studenten ohne Studium

Mit schlafwandlerischer Sicherheit bewegte Raphaela sich durch die Innenstadt. Meistens ging sie zu Fuß, längere Strecken fuhr sie mit der Straßenbahn. Sie kannte jede Gasse und jeden Winkel in der Altstadt. Kein Wunder; denn sie war hier aufgewachsen und zur Schule gegangen und jetzt studierte sie am gleichen Ort Pädagogik. Jedenfalls offiziell, inoffiziell war sie ständig unterwegs. Sie besuchte Freunde und Freundinnen, Liebhaber und Verehrer. Zum Lernen und Studieren blieb nicht viel Zeit. Mit einem Lehrbuch in der Hand hätte man sie nur selten sehen können. In ihrer geräumigen Handtasche befand sich nicht einmal ein Vorlesungsverzeichnis. Was die Wissenschaft, das Studium und die Seminare anging, war Raf eine jungfräuliche Novizin. Doch ihre Kenntnisse der Gefühle und Sehnsüchte junger, aufstrebender Männer waren nahezu unberenzt.
 
Ihr Gewissen beruhigte Raf damit, dass sie die aktuellen Leistungen von Professoren und Dozenten in der Pädagogik als gering einstufte. Das war eine Überzeugung, die sie sich zurechtgebogen hatte. Ihr Standpunkt wurde durch die schlechten Ergebnisse des verworrenen Erziehungssystems bestätigt. Dafür waren aber nicht, wie sie meinte, die Professoren verantwortlich, sondern die veralteten Inhalte des Lehrplans: Da gibt es viel traditionellen Ballast und riesige Lücken bei brauchbaren Wissenschaften. Das alles lief aber für Raphaela auf das Gleiche hinaus: Sie hatte nicht besonders viel Lust zum Studieren.
 
Wenn das mit dem Musik-Club klappen sollte, hätte sie erstens eine Wohnung und zweitens einen coolen Job und dann wäre das Studium nachher die leichtere Übung oder vielleicht ganz überflüssig, dachte sie.


 
 
 
 
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