Leseprobe: Neu-Jericho 1 / Das arabische Skript



01 Vulkanblick

      Im Westen kämpfte die tief stehende Sonne mit Wolken, Bergen und Wäldern, sie war bald zum Untergang bestimmt und das graue Band der Autobahn führte mitten hinein ins Abendrot. Bald müsste hinter einer Bergkuppe die Tankstelle auftauchen, wo der zylindrische Dieseltank noch immer neben der Pumpe auf der Erde liegt. Die Grube, in die er hinein sollte, ist nie gegraben worden, wahrscheinlich zu viel Basalt im Untergrund.
      Jean Quetsch, am Steuer seines Kombi, gab Blinkzeichen und lenkte nach rechts in die Ausfahrt "Vulkanblick".
      In dieser Gegend waren wirklich Vulkane zu sehen, aber seit zwanzigtausend Jahren sind sie nicht mehr aktiv. Die Landschaft sieht noch vulkanisch aus: Kegelförmige Bergspitzen und überall rote Lava im Untergrund. Lava und Basalt. Einige Krater haben sich mit Wasser gefüllt und sind zu Seen erstarrt.
      Er machte an der Dieselpumpe den Tank voll, dann ein Blick in die Raststätte, die eher einem großen Kiosk ähnelte. Motorradfahrer saßen da auf groben Holzbänken in ihrem Lederzeug, sie rauchten Zigarren, Zigaretten oder Joints, fummelten mit ihren Bräuten und tranken Limo, die Helme hatten sie abgenommen.
      Jean Quetsch mochte die Landschaft, diese Tankstelle, das Vergängliche an dieser Szene. Irgendwann bricht einer der Vulkane wieder aus, davon ist Jean überzeugt, wahrscheinlich genau dann, wenn sie hinten am Nürburgring das Festival feiern, und dann wird alles unter einem Aschenregen begraben, so wie damals in Pompeji.
      Jean ging mit steifen Beinen draußen auf dem Parkplatz ein paar sinnlose Schritte hin und her, dann kam er, tief Luft holend, wieder zu seinem Wagen zurück .

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      Ein Mann von undefinierbarem Alter, mit einer runden Brille und langen, krausen Haaren sprach ihn von der Seite an: "Fährst du in Richtung Luxemburg?"
"D'accord" antwortete Jean und ließ an seinem Tonfall erkennen, dass er Luxemburger ist, der andere ging nicht darauf ein und sprach weiter Hochdeutsch.
      "Nimmst du mich mit bis Jericho?"
"Jericho? Das gibt es in Luxemburg nicht."
"Wart nur ab, ich zeig's dir."
      Jean hatte, wie es seine Gewohnheit ist, die Türen des Wagens nicht abgeschlossen, der andere schien das zu wissen, er hatte die Beifahrertür schon geöffnet und stieg ein.
      Der Mann hatte keinerlei Gepäck dabei. Er trug eine grünliche Tropen-Uniform mit vielen großen Taschen, die prall gefüllt waren. In diesen Taschen könnte alles Mögliche versteckt sein, auch Dynamitstangen und Handgranaten. Jean Quetsch musterte seinen Mitfahrer von der Seite, aber das schien den nicht zu irritieren.

      Sie fuhren los über die Autobahn und es wurde dunkel in den Tälern. Der Motor brummte vor sich hin, die beiden Männer schwiegen, ihre Gedanken gingen eigene Wege, Scheinwerfer tasteten vorwärts über den Asphalt. So ging es fast zwei Stunden lang immer in Richtung Westen. Irgendwann tauchte die Brücke über das Tal auf, das Deutschland von Luxemburg trennt. Ein blaues Schild stand da, mit vielen gelben Sternen.
     "Wir fahren jetzt Richtung Echternach," sagte der Mann mit der Tropen-Uniform in einem Ton, der keinen Widerspruch erwartete.

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      Jean Quetsch fühlte sich etwas überrollt, weil er eigentlich nach Luxemburg-Stadt wollte, aber sein Land ist ja klein, viel Umweg konnte es nicht sein. Statt zu widersprechen, bog er an der ersten Ausfahrt hinter der Grenze von der Autobahn ab und fragte neugierig:
     "Wer bist du eigentlich?"
"Oh, pardon, ich hab mich nicht vorgestellt. Ich bin Jumbo, ein Vertreter Südafrikas."
"Vertreter von was und wo?"
"In Neu-Jericho."
"Neu-Jericho? Hab ich noch nie was von gehört, ich bin Luxemburger, ich kenne unser ganzes Land."
"Offenbar nicht genug. Halt hier mal an!"
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

02 Die Pagoden-Stadt

      Jean Quetsch verdrehte den Kopf, seine dunkelblonden Haare sträubten sich ein wenig, aber er fuhr auf den Seitenstreifen. Jumbo stieg aus und sagte mit Bestimmtheit:
"Ich fahre jetzt am besten weiter, wegen der Kontrollen." "Kontrollen?"
      Mit der größten Selbstverständlichkeit ging Jumbo um das Fahrzeug herum. Bei Jean kämpfte die Entrüstung mit der Neugierde; die Neugierde siegte, er arbeitete schließlich als Fernsehredakteur. Lass ihn mal fahren, dachte er, dieses winzige Land ist langweilig genug.
      Jumbo setzte sich ans Steuer, er kurbelte die Scheibe herunter und legte wie ein Militärfahrer seinen Ellenbogen ins Fenster. Dann fingert er aus der Brusttasche seiner Uniformjacke zwei schlanke Havanna-Zigarren hervor, eine für sich, eine für Jean. Jean gab Feuer. Bald darauf verließen sie schon wieder die Straße, die nach Echternach führen sollte.

      Die Schnellstraße war jetzt sehr breit mit einem Randstreifen. Die Bäume traten weit zurück und es ging eine halbe Stunde immer nur geradeaus. Eigentlich müsste Luxemburg längst zu Ende sein.
      Ein riesiges Hinweisschild mit zahlreichen Informationen tauchte auf, so ein Schild, wie es an Großbaustellen steht. Gleich daneben ein Kontrollposten. Zwei Burschen in Uniformen der luxemburgischen Polizei traten ans Fenster. Jumbo hob nur lässig seine linke Hand, das genügt, sie salutierten, murmeln etwas wie "Captain" und gaben die Durchfahrt frei.
      Jean hatte es wegen der Kontrolle verpasst, sich das Schild genauer anzuschauen, nur den Schriftzug "NEU-JERICHO" hatte er registriert und so etwas wie eine paar Jahreszahlen:

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      "2023 bis 2051", das muss wohl ein Irrtum gewesen sein; denn wir haben das Jahr 2013, das wusste Jean Quetsch noch ganz genau, vor zwei Tagen war er dreiundvierzig geworden.

      Noch immer war neben der Straße nichts zu erkennen außer der nächtlichen Feld-Wald-und-Wiesen-Landschaft der Ardennen. Jumbo drückte kräftig aufs Gaspedal. Am Horizont tauchten die Lichter einer Stadt auf, in einer Anordnung, wie Jean sie noch nie gesehen hatte. Das konnte nicht Luxemburg-Stadt sein, erst recht nicht das mittelalterlich verschlafene Echternach; es war ein weit verstreutes Lichter-Meer.
      Das sah so aus wie London bei Nacht aus etwa zwanzig Meilen Entfernung. Die Lichter waren weder sehr hell noch besonders zusammengedrängt, sie leuchteten sanft in den Abendhimmel und verteilten sich über eine Fläche, die sich in drei Richtungen bis zum Horizont ausdehnte. Das musste die Stadt Neu-Jericho sein, die Jumbo genannt hatte, es schien, das sie größer war als alle Orte Luxemburgs zusammengenommen.

      Langsam glitt der alte Kombi mit den beiden ungleichen Gesellen über die Schnellstraße in diese Stadtlandschaft hinein. Viele Gebäude waren rundliche Türme, die kaum erkennbar in den Himmel ragten, nur einige Fensterpartien milde von innen beleuchtet. Es gab anscheinend tausende solcher Türme. Jumbo lenkte den Wagen auf eine Ringstraße, die um den Stadtkern führte.
      "Die Bevölkerung ist fünfzehn oder zwanzig mal so groß wie die von Luxemburg", sagt Captain Jumbo, "wir haben zehn Millionen Einwohner." Jean hatte es schon aufgegeben, das was der Captain sagte, mit dem zu vergleichen, was er, Jean Quetsch, bisher wusste. Und er

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wusste vieles, schließlich war er Luxemburger und RTL-Journalist.
      Wir sind doch ein neugieriges Völkchen, dachte er, ich werde ihn interviewen und darüber eine Doku machen, es ist sensationell... Captain Jumbo kurvte inzwischen mit dem Auto um einen der Türme herum, dabei schien er die Fragen des Wagenbesitzers vorweg zu nehmen.
"Neu-Jericho ist eine Pagoden-Stadt. Diese Türme sind etwa 200 Meter hoch und zwölfeckig gebaut; sie haben zweiundachtzig Stockwerke, jedes mit zwölf Sektoren. In der Mitte der Gebäude befinden sich Fahrstühle und Treppen."
      Er streckte die linke Hand weit aus dem Wagenfenster und deutete auf eins der buddhistisch-sakral anmutenden Gebäude, das neben ihnen in den Himmel ragte.
"Hier unten, siehst du, da sind die Sektoren nach außen hin offen. Am Tag haben wir da Marktstände oder Werkstätten oder Straßencafés, alles ist im Fluss. Auf den Etagen darüber sind dann Shops und Handwerksbetriebe, darüber Büros, bis etwa zum fünften oder zehnten Stock, ganz oben Wohnungen. Die Wohnungen sind übrigens alle umsonst."
      Jean zuckte zusammen, irgendetwas sträubte sich in der Seele eines besser Verdienenden.
"Wohnungen umsonst? Wem gehören sie denn? Wer hat das Ganze finanziert?"
"Die Organisation läuft über ein direktes Verteilungssystem. Ein Netz von Computern, es funktioniert gerecht, ohne Ansehen der Person."
Bei dem Wort "gerecht" lächelte Jumbo jungenhaft, er griff in seine Brusttasche und holte noch zwei von den schlanken Zigarren hervor.

03 Der gläserne Staat

     "Spielt denn Geld bei euch keine Rolle?" fragte Jean.
"Natürlich gibt es bei uns auch Geld, wir bezahlen wie alle anderen mit Geld, aber das Geld hat eine reduzierte Funktion. Wir benutzen es nur als Tauschwert. Wenn ich Zigarren kaufe oder Lebensmittel oder du musst eine Reparatur am Auto bezahlen, Geld wird bei uns nicht zu Kapital. Eine Wohnung bekommst du nicht für Geld, sondern direkt nach Bedarf in unserem Verteilungssystem." Jean hatte nicht ganz verstanden.
"Eh, und wie bezahle ich mein Benzin oder mein Baguette?"
"Du?"
"Oh, ich bin ja... wenn ich ein Bürger hier wäre." Beinahe hätte er sich selbst einen Ausländer genannt.

     "Du verdienst hier Geld, wie überall sonst mit einem Job. Doch eine Wohnung gibt's umsonst, eine Wohnung ist in Europa ja Lebensbedingung. Du musst dich nur registrieren lassen. Wenn du willst, zeige ich dir, wie das geht. Die Registraturen sind im ersten Stockwerk."
"In welchem Gebäude denn?"
Jumbo lachte vergnügt über Jeans Unwissenheit.
"Mann, in jedem Wohnturm ist ein Bürgerbüro, immer auf der ersten Etage, da kannst du alles erledigen. Das erste ist die Registrierung. Du bekommst eine Identitätskarte, auf der alle Daten gespeichert sind; auch dein Foto, du bist unverwechselbar." Er zog an seiner Zigarre, spuckte aus dem Fenster, dann grinste er Jean so an, als seien sie schon seit ewiger Zeit Freunde.

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"Du kannst dich sofort entscheiden, wo du wohnen willst. Es ist immer was frei in den obersten Stockwerken. Bist du verheiratet?
"Im Augenblick nicht so ganz..."
"Egal, deine Frau ist jedenfalls nicht da. Dir steht dann eine Single-Wohneinheit zu, das ist ein kleineres Apartment. Und alle Wohnungen haben einen tollen Blick über die Stadt."
Er zeigte auf den obersten Teil eines dieser Türme, wo einzelne Fensterflächen schwach erhellt in die Nacht blinkten.

      Jean schaute hinauf. Er war ein skeptischer Europäer und begann nach der Crux in dieser Geschichte zu suchen.
"Also hör mal, das ist doch ziemlich unpersönlich und so was wie Datenschutz kennt ihr hier überhaupt nicht..." Jumbo nahm eine Hand vom Steuer und machte eine unwillige Handbewegung.
"Du denkst oppositionell, wie in der Parteiendemokratie. Deine Identität und deine Einmaligkeit wird doch nicht angetastet. Und zweitens, es werden immer nur Daten verwandt, die für einen Vorgang relevant sind. Nimm als Beispiel die Wohnungsvergabe. Da ist dein jetziger Familienstand gefragt und der Tag des Eintritts in die Bürgerschaft, sonst nichts. Wenn du länger hier lebst, hast du Chancen, eine bessere Wohnung zu bekommen, zum Beispiel, nach Süden oder in einem tieferen Stockwerk. Aber zwei Wohnungen kriegst du nie, egal wie lange du lebst und wer du bist und wo du arbeitest."
Das hörte sich gut an, doch es musste auch Schwachstellen in diesem System geben. Jean grübelte ein Weilchen nach, er war ein geschickter Fallensteller.

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"Was ist denn, Käpten, wenn ich mir zwei Identitätskarten verschaffe? Wenn das so einfach ist, wie du sagst, dann gehe ich heute in diese Pagode und morgen in einen anderen Turm und besorge mir eine Identität mit Wohnberechtigungsschein und dann die zweite."
"Du bist raffiniert, doch du hast die Rechnung ohne mich gemacht; ich bin nämlich Kontroll-Offizier. Eine meiner Aufgaben ist es, solche Kandidaten wie dich und deinen Doppelgänger, deren Daten sich zu sehr gleichen, herauszufischen. Ich lade euch beide zu einem Identitätstest, zum gleichen Termin. Da merke ich schnell, was los ist. Es gibt vielleicht ein oder zwei Fälle in einer Million, denen so was gelingt."

      "Ich werde bei euch also total durchleuchtet und nur wie eine Nummer behandelt!"
"Nein, deine Identitätskarte hat eine Nummer, die Wohnung hat eine Nummer, aber du bist keine Nummer. Jeder ist freiwillig hier. Und wenn du hier bist, musst du die Spielregeln anerkennen. Die sind für alle gleich, wenn sie auch nicht so einfach sind wie die Regeln in einem babylonischen Land. So nennen wir euch hier: Babylon."
      "Kompliziertere Spielregeln, mehr Organisation? Da soll sich ein echter Letzebuerjer wie ich noch frei fühlen!"

      "Naturellement! Die Freiheit ist enorm; die Organisation hat sehr viel mit schneller Datenverarbeitung zu tun und sehr wenig mit Bürokratie. Und da gibt es tausend Möglichkeiten. Du suchst einen Platz im Kino und kriegst ihn eine Sekunde später; du willst eine Werkstatt eröffnen und bekommst einen Raum, nicht nur einen Gewerbeschein! Wir haben den gläsernen Bürger aber auch die gläserne Verwaltung und sogar eine gläserne Justiz.

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      Das Herz und das Gehirn des einzelnen bleiben dabei undurchdringlich. Es gibt daher leider auch Verbrechen, zwar wenige, weil es wenig Ungerechtigkeiten gibt."

      Bei den Wort "Verbrechen" zuckte Jean ein wenig zusammen. Es war inzwischen Nacht, Büsche und Bäume drängten sich bis an die Straßen und Wege, aber trotz spärlicher Beleuchtung war es nicht unheimlich. Jean hatte das Gefühl, dass die ganze riesige Stadt tief und friedlich schlief.

      Inzwischen hatte Captain Jumbo den alten Kombi weit weg von der Hauptstraße zu einem baumbestandenen Parkplatz gesteuert. Dort hielt er an. Wie überall waren nur wenige Fahrzeuge zu erkennen. Der Captain steigt aus und überreichte Jean seinen Autoschlüssel, ein Zeichen, dass die nächtliche Fahrt hier zu Ende ging. Vor ihnen ragte einer der zwölfeckigen Türme in den Nachthimmel; die ebenerdigen Sektoren waren nach außen hin offen. Es lagen Gerätschaften herum, Möbel, Werkzeuge, Fahrräder, teils unter Planen verdeckt. Eine der zwölf Öffnungen war das Eingangs-Portal.
      Im Hintergrund des Eingangs, an der Achse des Gebäudes, waren Fahrstühle zu erkennen und Treppen. Als sie dann weiter gingen und um die nächste Trennwand bogen, sah Jean zu seiner Überraschung vor sich ein offenes Straßencafé, das jetzt in der Nacht noch voll besetzt war und mit exotischer Musik zum Schwärmen einlud.
 
 
 
 

04 Havanna 2059

      Die Beleuchtung im Inneren des Cafés wirkte auf einen Fremden wie Jean zunächst spärlich. Oben über der Theke flimmerte in einer bunt-verspielten Neonreklame der Name "Havanna 2059". Die Musik war angenehm leise und von klarer Präsenz. Sie schienen ein ausgetüfteltes Lautsprechersystem zu besitzen.
      Kaum hatten sich die beiden an einen der runden Tische gesetzt, da erschien der Kellner mit einem gelben Turban, wie ihn die indischen Sikh tragen. Jumbo bestellte grünen Tee und Salat, der mit frischem Brot serviert wurde. Jean konnte es sich nicht verkneifen, ein Diekirch Pils aus Luxemburg zu bestellen. Der Sikh nickte allwissend.
      Das Café war voll besetzt mit Frauen und Männern in etwa gleicher Anzahl, sehr unterschiedlich gekleidet: Elegante Nachtschwärmer, sportlich eingezwängte Skater, Salsa-Tänzerinnen mit Rüschen-Röcken, sogar ein paar verschleierte Frauen, die sich ziemlich ungeniert in einer orientalischen Sprache unterhielten und dabei ihre blitzblanken Mode-Schuhe zur Schau stellten.

      Captain Jumbo fühlte sich in diesem Ambiente offensichtlich wohl.
"Ich wohne hier in diesem Turm. Das besondere ist dieses Nachtcafé, das einzige im ganzen Bezirk. Die meisten Leute schlafen nachts, aber ich bin Nachtmensch; ich arbeite auch fast nur in der Nacht, als Nachtverwalter." Jean schluckte sein stark gekühltes Bier direkt aus der Flasche.
"Ich schaffe bei der RTL in Köln und demnächst mach ich mit bei einer Late-night-show, dann bin ich auch Nachtarbeiter. Das kann sich über Jahre hinziehen, ist allerdings noch nicht ganz spruchreif. Fernsehen ist wohl auch etwas völlig anderes..." Jumbo lacht gequält.

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"Fernsehen gibt es hier schon lange nicht mehr. Es wurde nicht unterdrückt, aber es hat sich inzwischen überlebt. Für so etwas wie RTL haben wir hier keinen Bedarf, niemand will Werbung, weder sehen noch bezahlen. Das Öffentlich-Rechtliche wurde auf ein Computer-Angebot reduziert, da gibt es Nachrichten und andere Programme auf Abruf, wie im Internet. Wer will, kann sich auch Spiel-Filme und Unterhaltung runter laden. Wir haben an jedem Terminal ein Kartenlesegerät, damit werden die Gebühren für Filme und so abgerechnet."

      "Hätte ich mir fast denken können", meint Jean giftig, "und jeder weiß dann auch, was Käpten Jumbo sich für Pornos auf den Schirm geholt hat."
"Niemand weiß das, du Spätliberaler! Ich hab dir doch schon erklärt, dass von der ID-Karte immer nur relevante Daten eingelesen werden. Keiner liest deinen Namen, nur die Kontonummer auf der Karte, dann werden die Gebühren eingezogen, das ist alles, und bei manchen Darbietungen wird geprüft, ob du erwachsen bist. Du glaubst ja nicht, was mit so einer Technik alles geregelt werden kann!"

      Captain Jumbo griff mit gespreiztem kleinen Finger zu seiner Teetasse und machte eine Geste in die Richtung, wo drei verschleierte Frauen saßen, so als würde er ihnen zu prosten, dabei redete er weiter zu Jean:
"Wir haben nebenbei die direkteste Demokratie, die du dir vorstellen kannst. Jeder Bürger kann jederzeit über alles mitbestimmen."
"Jeder kann jederzeit über alles mitbestimmen?" wiederholt Jean irritiert. "Wie ist das möglich, wenn du einen ganz normalen Job hast; du kannst doch nicht ständig in einer Bürgerversammlung rum hängen!"

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"Es funktioniert über ein Computersystem, so ähnlich wie das Internet; du loggst dich an einem Terminal in das lokale Netz ein und erfährst dann, welche Entscheidungen seit deinem letzten Log-in angefallen sind, also was noch zur Entscheidung für dich ansteht. Dann kannst du deine Stimme abgeben zu diesem Thema. Es ist freiwillig. Wenn du nicht abstimmst, wird ohne dich entschieden. Vieles wird ohne dich entschieden, weil du dich ja nicht für alles interessieren kannst."

      "Das ist doch keine Demokratie! So kommen überhaupt keine qualifizierten Mehrheiten zustande!" Jean war ziemlich entrüstet über diese Methode.
      "Nein!" Jumbo antwortete mit Überzeugung in der Stimme, "es ist viel besser als deine Demokratie! Was du qualifizierte Mehrheiten nennst, ist ja in Wirklichkeit eine Mehrheit von Unqualifizierten. Fast nie sind mehr als 20% der Bürger über ein Thema informiert und daran interessiert und erst recht nicht kompetent zur Entscheidung."
"Da hast du allerdings recht. Die Parteien spielen einzelne Themen hoch, um Alternativen vorzutäuschen, die es gar nicht gibt. Am Ende wählt das Volk eine einzige Person mit dem Slogan: Weniger Steuern und mehr Geld in der Tasche."
"Das ist die sogenannte Mediendemokratie", bemerkte Jumbo verächtlich, "was wir haben, ist direkte Demokratie mit digitalen Abstimmungen."
 
 
 
 
 
 

05 Schönheit unter Schleier

      Jean ließ seine Blicke durch den offenen Raum des Café Havanna schweifen. Die drei verschleierten Frauen am Nachbartisch faszinieren ihn, sie spielten mit einem Handy, empfingen wohl Bilder und geheime Texte von Ehemännern und Liebhabern, über die sie sich köstlich amüsierten. Gelegentlich sandten sie aus den Schlitzen ihrer Schleier feurige Blicke zu Jumbos Tisch hinüber.

      "Ich würde zu gerne mal wissen, wie diese Frauen ohne Schleier aussehen", meint Jean.
"Ich weiß es", konnte Jumbo ihn beruhigen, "sie wohnen hier im Haus. Wenn sie in mein Büro kommen, müssen sie manchmal den Schleier ablegen, wegen der Identitätsprüfung.“
      "Aha, das hab ich mir gedacht! Irgendwo sitzen die Scheichs, die alles im Griff haben, wie du zum Beispiel. Du bist Kontrolloffizier, sogar Captain und Machtverwalter."
"Nicht Machtverwalter, du Witzbold, Nachtverwalter! Und das mit dem Captain ist auch nur ein Jux. So nennen mich alle, weil ich mich wie Fidel Castro anziehe. Nachtverwalter ist bei uns einer, der des Nachts die Bürgerschaft repräsentiert. Wenn jemand also unbedingt um halb drei in der Nacht heiraten will, dann kann er das in meinem Büro. Er kann auch demokratisch wählen. Ich helfe den Leuten dabei; denn das ist alles, wie ich schon sagte, ein wenig komplizierter als in Babylon."

      "Und du glaubst, dass ihr weniger beschissen werdet als die Italiener, Franzosen oder die Deutschen, bei uns in Babylon?"
"Mit Sicherheit! Unser System ist transparent, wenn du einen Einblick in die Computer-Programme haben willst, bekommst du ihn. Es ist eine meiner Aufgaben, völlige Transparenz herzustellen. Wenn du Programmierer bist oder wenigstens so ein Programm lesen kannst, dann zeige ich dir den Quell-Code. Da siehst du genau, wie

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Daten eingelesen und verarbeitet werden. Wenn dir daran etwas nicht gefällt, kannst du eine Kampagne starten, um eine Programmänderung in Gang zu bringen, du brauchst natürlich die Zustimmung von Leuten, die sich für dieses Detail interessieren. Da ist kein Platz für Populisten und Reklamemacher."
      "Danke für den Hinweis. Sag mal, wenn hier alles so super ist, warum bist du dann gestern in Deutschland herum getrampt?"
Captain Jumbo lächelte wieder sein allwissendes Elefanten-Lächeln und tastete mit der Hand nach seiner Brusttasche.

      "Oh Mann, wie heißt du eigentlich?"
"Jean Quetsch."
"Jean Quetsch! Du kannst einen ja richtig ausquetschen! Erinnerst Du dich vielleicht an die Raststätte, wo du mich aufgegabelt hast?"
"Vulkanblick?" "Ja, Vulkanblick. Der Inhaber, er heißt Felix, ist ein alter Freund von mir, ein Kuba-Freak wie ich. Seit er vor Jahren mit dem Kiffen aufgehört hat, raucht er nur noch Havanna-Zigarren. In seinem Kiosk hat er eine tolle Auswahl. Ich hab mir da ein paar Havannas geholt, die sind in Deutschland viel billiger als in Neu-Jericho, und die Zigarren aus Luxemburg, die mag ich einfach nicht."

      Jean zückte schon sein Feuerzeug, ehe Captain Jumbo lachend in seine grünliche Uniform-Jacke griff. Und die verschleierten Frauen am Nebentisch kicherten so amüsiert, dass ihr Gelächter fast die Nachtruhe störte. Die Schleier schienen sie nicht im Geringsten daran zu hindern, sich unter den Männern in ihrem Blickfeld einen Kandidaten für ihre Träume auszusuchen.


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