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Ein Lyrikpreis
für Rob Kenius

 
Wahn und Wissen
 
Sonderpreis in der Rubrik
Natur und Umwelt beim XXIII. Gedichtwettbewerb 2020 der Bibliothek deutschsprachiger Gedichte.


Publikumspreis
für Rob Kenius

Nacht der schlechten Texte

Wegweiser*in für Gender*innen

Gender*innen
Täter*innen
Egoist*innen
Verschwörungstheoretiker*innen
Höhlenforscher*innen
Nenandertaler*innen
Krawallmacher*innen
Sklav*innenhalter**innen

Auswanderer*innen
Mörder*innen
Zuhälter*innen
Kriegsdienstverweigerer*innen
Torschütz*innen
Torschütz*innenkönig**innen
Fliesenleger*innen
Sklav*innenhändler**innen

Betonträger*innen
Russ*innenhasser**innen
Faulenzer*innen
Einwanderer*innen
Klugscheißer*innen
Angeber*innen
Blockbuster*innen
Sklav*innenbefreier**innen

 
Die Nacht der schlechten Texte: Literatur-Event in Österreich.
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Publikumspreis an Rob Kenius mit der Dub-Geschichte "Auf dem Traumboot der Liebe"
 

Egoist*innen haben kein Charisma


 

99 schwere Waffen

99 schwere Waffen
eingesetzt im Krieg der Affen
gegen einen Pavian,
der im Besitz ist von Uran
und sehr viel Land mit Bodenschätzen.

Die Affen wollen es besetzen
sie wollen an den guten Stoff.
Sie kämpfen aber aus dem Off.
Vor den Raketen und Kanonen
wollen sie ihr Land verschonen.

Man hat den Pavian umzingelt,
bei dem hat der Alarm geklingelt,
er ist ins Nachbarland marschiert
damit die Aggression stagniert.
Doch da regieren auch schon Affen
und die sind geil auf schwere Waffen.

In Kiew schreit man laut hurra!
Wir kämpfen für die USA!
Wir kämpfen für den freien Westen
und wollen ihre Waffen testen.
So kam es zu dem Krieg der Affen
mit 99 schweren Waffen.

99 Friedensboten
sehen Rauch aus allen Schloten
und siebenhundert Demokraten
die ihrem Führer dringend raten
mehr Geld an diese Front zu schmeißen
dann können sie auch besser scheißen
auf den Frieden, auf die Toten
auf 99 Friedensboten.

99 Zeilen weiter
ist die Welt vielleicht gescheiter,
so dass alle es kapieren,
niemand kann die Welt regieren.
Darum stoppt die Feuerreiter
jetzt, und nicht erst
99 Zeilen weiter.
 09.05.2022



 
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Wahn
und
Wissen

 
Einmal waren Berge
wo heut die Wolken sind
und wo einst Vögel sangen
weht nur noch der Wind
 
Einmal wogten Felder
wo jetzt die Wüste weht
und drüben standen Wälder
wo ihr Felsen seht
 
Die Achse verschiebt sich
der Mensch merkt es kaum
Ziel seines Fortschritts
ist nur ein Traum
 
Einmal lebten Menschen
auf der Planetenbahn
doch über ihre Einsicht
siegte der Größenwahn
 
Viele vergessen
das was sie sind
Tropfen im Wasser
Spuren im Wind

Sonderpreis in der Rubrik Natur und Umwelt beim XXIII. Gedichtwettbewerb 2020
der Bibliothek deutschsprachiger Gedichte.

 
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Mädchen aus Shenzhen

Die folgende Impression wurde zuerst veröffentlicht im Worthandel-Verlag, Dresden 2006. Es ist die Liebeserklärung an eine Namenlose, eine von Millionen Frauen und Mädchen, die in der Industriezone von Shenzhen/China und an vielen anderen Orten Asiens eure Handys, Smartphones, I-Phones, Computer, Jeans, Turnschuhe und andere Klamotten für einen Hungerlohn zusammensetzen.


Der Geruch von dir und deinen Haaren, aus der Tiefe des Sumpfes, in dem du lebst, das gibt mir ein sicheres Zeichen in die Zukunft dieser Stadt. Schräge Strahlen fallen vom Westen aus der Sonne in die tiefe Häuserschlucht. Es ist überall hier und dort viel Arbeit zu tun, aber viele von uns tun sie nicht; sie tragen nur Tag und Nacht den Schweiß des Vergnügens an sich und enden schließlich auf einer Bank vor dem ewigen Bildschirm, bis die Zähne ihnen ausfallen vor Selbstvergessenheit.
 
Du fühlst dich so an, wie deine Arbeit sich anfühlt und deine sanften Hände. Deine Schultern tragen mit Leichtigkeit die Welt. Ich höre deine Stimme aus dem Handy; ich fühle deinen Stoff auf meiner Haut. Meine Laufschuhe tragen mich federnd bis in das Grenzgebiet, wo ich nach dir suche und fragend nach dir den Kopf verdrehe, bis ich schon am ersten Abend müde werde.
 
Sehnsucht ist rötliches Sonnenlicht. Sehnsucht ist schwarzer Baumwollstoff auf deinem Rücken. Ich lasse dich nicht fallen. Ich drücke auf deine Tasten, bewege dein winziges Bild hin und her, ich beleuchte dein Haar mit dem grünlichen Mondlicht geheimer Ziffern und Zeichen. Durch die Kanäle mit den höchsten Frequenzen sende ich meinen Herzschlag und die innere Energie vom anderen Ende.
 
Es ist eine Antwort auf die schwierige Frage in deinem Gesicht. Ein sanfter Handschlag, ein Hauch auf die Silhouette deiner Lippen. Dein erfreutes Lächeln und die Oszillation deiner Gedanken belohnen meinen Versuch und bestimmen meine Zeit schon sehr genau, genauer als bisher.
 
Langsam kommst du in meine Welt; denn wir haben Pläne, die sich ergänzen und das gleiche geduldige Wasser im Blut.

Autor:     2005 
          alle Rechte vorbehalten
          letzte Änderung: 03.12.2014
		  

                               

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1984 ist 2020
oder: Liebe ist Hass

Den Artikel hat am 09.02.2021 auch
KenFM, jetzt apolut übernommen.

 
In unserer Stadt gibt es, oft in der Nähe von Kirchen oder Gemeinschaftsräumen, für alle Passanten zugängliche Schränke zum Tausch von Büchern. Sie sind von beiden Seiten mit Glastüren versehen, so dass man Bücher hineinstellen oder entnehmen kann. Das Hineinstellen ist schwieriger als das Mitnehmen; denn die öffentlichen Tauschbücherschränke sind vollgestopft. Es lohnt sich aber, hinein zu schauen, man findet immer etwas. Und wenn uns ein Buch nach kurzer Lektüre nicht gefällt, kann man versuchen, es auf dem gleichen Weg wieder los zu werden.
 
So fiel mir vorgestern eine Ausgabe aus dem Jahr 2019 (!) des Romans 1984 in die Hände. Obwohl ich das Buch schon vor seinem Verfallsdatum 1984 gelesen hatte, nahm ich es mit, nicht zuletzt wegen der ansprechenden Aufmachung.

Da ich Bücher von der ersten Seite an lese, auch Impressum und Vorwort, erfuhr ich gleich Bemerkenswertes über den Autor:
 
George Orwell, mit bürgerlichem Namen Eric Arthur Blair, wurde nur 46 Jahre alt und starb im Jahr 1950, gleich nach Erscheinen seines weltbewegenden Romans, den er 1948 beendet hatte. Er hat seinen Erfolg nie erlebt.
 
Früher hatte ich mich gewundert, wieso Orwell die Zukunft nicht weiter vordatiert hatte. Was sind schon 36 Jahre Zukunft? Für ihn aber war das weit über sein kurzes Leben hinaus; denn er fühlte sich dem Tod nahe. Er vertauschte nur die beiden letzten Ziffern der Jahreszahl. Geschrieben 1948, Zeit der Handlung 1984.
 
Die meisten Autoren von Zukunftsromanen sind da vorsichtiger, sie möchten nicht so schnell durch die Realität überholt werden. So hieß es in einem bekannten Hit:
In the year 2525
if man is still alive...
 
Schon im Jahre 1985 betrachtete ich den Roman 1984 als überholt, weil der Generalsekretär Michail Gorbatschow so gar nicht in die Figur des Großen Bruders passte. Das Buch wurde zur Zeit Stalins verfasst und als die Sowjetunion sich friedlich auflöste, war 1984 für mich endgültig erledigt. Ohne die Tauschaktion am öffentlichen Bücherschrank hätte ich den Roman nie wieder angepackt.

Die Tauschoperation

Doch als ich das Buch wieder aufschlug, war ich schon nach drei Seiten fasziniert!
    Alles schien aktueller denn je.
  • Die Falschwörter
  • Neusprech
  • die Unehrlichkeit der Nachrichten
  • Geheimnistuerei
  • Unsicherheit der Informationen
  • Kontaktarmut zwischen den Menschen
  • Verlogenheit der Politiker
  • Hetze gegen imaginäre Feinde

  • Das alles kam mir näher vor als bei der ersten Lektüre, viel näher, es ist auf einmal alltäglich und beklemmend nahe, hier bei uns in der freien westlichen Welt.
Das macht nachdenklich. Erst der Zifferntausch des Autors beim Titel des Buches, dann ein öffentlicher Bücherschrank zum Tausch von Büchern und dann kam mir die Idee einer weiteren Tauschoperation, diesmal mit Zahlen: Vertauschen wir doch Vergangenheit und Zukunft um den Zeitabstand von 36 Jahren.
 
Im Jahr 1984 lag die Fertigstellung des Romans 36 Jahre zurück, 1984 - 36 = 1948
Was ist, wenn wir die Richtung vertauschen, von 1984 an noch einmal 36 Jahre in die Zukunft, wo landen wir da?
1984 + 36 = 2020
 
Allerhand! Man landet im Jahre 2020, dem Jahr wo man alle wichtigen Probleme der Welt in unseren Köpfen mit einem Virus vertauscht hat. Die Geschichte spielt jetzt nicht mehr in Ozeanien, sondern in der Wertegemeinschaft der freien Westlichen Welt und darüber hinaus in der globalisierten Wirtschafts- und Finanzwelt.

Was ist hier los?

Wir werden auf allen Kanälen mit Nachrichten überschüttet und wissen nicht, was wir glauben sollen. Das größte Problem ist die absurde Finanzlage: Staaten machen Schulden, inzwischen die größten Schulden aller Zeiten, sie borgen sich hunderte Milliarden von den Banken. Dort aber wird dieses Geld per Mausklick am Computer erzeugt. Es wird an die Staaten ausgeliehen, die es in die Wirtschaft pumpen, wo es kurze Zeit rotiert und dann auf Konten der gleichen Leute landet, wo es als Kredit hergekommen ist. Das reichste Prozent der Weltbevölkerung, sie können damit wieder machen, was sie wollen.
 
Das Geld entsteht bekanntlich erst bei der Schuldenaufnahme. Und die größten Schulden sind die der Regierungen. Das Geld wird durch Gutschrift generiert und muss von den Bürgern, im Namen der Demokratie, und von ihren Kindern und Enkeln, im Namen der Biologie, an die Finanzwelt zurückgezahlt werden. Das ist so absurd, dass George Orwell es nicht besser hätte erfinden können, wenn er etwas länger gelebt hätte. Aber es ist Realität und ich bin bereit, jederzeit den Beweis anzutreten, dass die absurde Realität genau so funktioniert.
 
Alles geschieht mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie die Essensausgabe und das Ausschenken von Victoria-Gin in der Kantine des Wahrheitsministeriums in 1984.
 
Wir hier aber können, wenigstens auf einer Webseite, öffentlich fragen: Wozu macht die Regierung diese immensen Schulden und ermöglicht der Finanzwelt im Jahr 2020 die größte Geldvermehrung aller Zeiten? Es geschieht offiziell für Maßnahmen, um ein Virus zu bekämpfen, das sich zwar schnell ausbreitet, aber nur wenigen Menschen gefährlich wird.
 
Die Menschen sind winzig klein und das Virus ist riesengroß wie im Roman der Große Bruder, von dem man nicht einmal weiß, ob er wirklich existiert. Das Virus existiert wirklich, daran ist kein Zweifel, aber seine Wirkung ist schwach. Es trifft Menschen, deren Todesrisiko wegen ihres hohen Alters schon viel größer ist als wegen irgendeiner noch hinzu kommenden Krankheit.
 
Das alles ist verbunden mit einer offiziellen Sprachverwirrung, wie Orwell sie vor zwei mal 36 Jahren schon beschrieben hat. Es ist verboten, diese Krankheit eine Grippe zu nennen, aber kein Arzt kann den Unterschied zu einer Grippe erkennen. Nur die Virologen können etwas erkennen, sie können mit modernsten Mitteln jedes Virus identifizieren und behaupten, wenn sie es 45 mal verdoppeln, also mehr als 32 Billionen mal vermehren, können sie es im Speichel nachweisen. Sogar das Erbgut kann man sequenzieren und sie sehen, wie das Virus sich langsam durch Mutationen verändert.
 
Das ist sensationell, aber nichts daran ist neu; denn dass solche Viren existieren, sich verbreiten und schnell mutieren, weiß man schon lange. Neu ist nur, dass Sprecherinnen und Sprecher im Fernsehen und die Texte in allen Medien das täglich wiederholen, wobei diese Nachrichten langsam mutieren und die Akzente verlagern.

Doppeldenk und Neusprech

Es gibt in 2020 keinen Großen Bruder wie in 1984, aber alle Medien, alle Zeitungen, alle Sender und Mediatheken reden, diskutieren und verkünden ein einziges Thema: Das schwache Virus, das sich so schnell ausbreitet und mutiert, schneller als die Menschen krank werden und sterben können.
 
George Orwell schildert, wie das Nachdenken über Ungereimtheiten und Widersprüche durch Doppeldenk verschwindet. Doppeldenk bringt Realität und Neusprech im Kopf zusammen und erzeugt an der Oberfläche Konsens mit den anderen, wie es verlangt wird.
 
Unsere Politiker, unter denen es keinen richtigen Big Brother gibt, haben sich der Sache gleich bemächtigt. Sie ignorieren alle Probleme, selbst Kriege im nahen Osten und kümmern sich intensiv um die Gesundheit.
    Ist das eine Kampagne? Ist es Ablenkung? Ist es eine Ablenkungskampagne von den Problemen, welche die Regierung nicht bewältigt hat?
  • Umwelt
  • Energie
  • Klimawandel
  • Umverteilung
  • Vermögenskozentration
  • Polarisation der Finanzmacht
  • Herrschaft der Finanzoligarchen?
Es gibt keinen Großen Bruder, aber die kleinen Schwestern des Großen Bruders möchten genau so wie der Große Bruder von den Problemen ablenken, die sie nicht bewältigen. Sie kümmern sich rührend darum, die Menschen vor einer Krankheit zu beschützen, die sie vielleicht nie bemerkt hätten, wenn nicht die Virologen so kreativ und erfolgreich wären.
    Die Virologen sagen:
  • Virus ist Infektion
  • Infektion ist Krankheit
  • Viele Viren sind viel Krankheit
  • Millionen Viren sind Millionen Kranke
  • Das Virus ist unser Feind
  • Es gibt keinen Frieden, so lange der Feind existiert
  • Unseren Feind können wir mit einem PCR-Test nachweisen und die täglichen Zahlen können wir zusammenrechnen
  • Hütet euch vor großen Zahlen und gefährlichen Zahlen-Kombinationen, den Inzidenzen.
Die Maßnahmen gegen das Virus, das kein Grippevirus ist, sind einfach. Es sind die gleichen wie gegen ein Grippevirus: Distanz halten, nicht ohne Mundschutz reden, nicht singen, nicht tanzen, kein Sport, nicht zum Frisör, nicht ins Café, nicht in die Kneipe. All das ist einfach zu realisieren. Nicht nur freiwillig sondern auch mit Zwang, aber leider ohne nennenswerten Erfolg. Doch das macht nichts, es kommt auf die Zustimmungswerte an. Es ist wie im Roman 1984. Die Zustimmung kommt mit der Propaganda durch Doppeldenk.
 
2020 war das Jahr des Doppeldenk und des Vielfalschzähl. Virus ist Infektion. Infektion ist Krankheit. Krankheit ist Tod. Statistik kennt der Große Bruder nicht. Korrelationen sind Kausalität.
 
Wir vermuten und spüren, dass dieses Virus ziemlich harmlos ist, aber wir haben Angst, von der Gedankenpolizei als Querdenker erwischt zu werden, wenn wir denken, alles sei halb so schlimm. Das wäre schlimmer, als sich das Virus einzufangen. Wir sind froh, dass wir Mundschutz tragen, damit wir uns nicht verplappern.

Falsches Denken kommt aus falschen Köpfen

Sind wir jetzt im Roman 2020? Oder ist der Roman 1984 nach zwei mal 36 Jahren in der Wirklichkeit angekommen? Wir wissen es nicht.
 
Aber es gibt Fakten: Die Ausbreitung des Virus kann nicht verhindert werden, es wird nicht einmal verhindert, dass es in Pflegeheime eindringt, wo Menschen leben, die im Schnitt nur noch ein bis zwei Jahre zu leben haben. Sogar dort kann es sich ausbreiten und den unvermeidlichen Tod beschleunigen, trotz all der Maßnahmen in Schulen und Supermärkten.
 
George Orwell hat vorhergesehen, wie man die Sprache durch Zwänge vergewaltigen kann.
Man sagt nicht:
Der Mensch ist sterblich, besonders im Alter, und einige sterben, wenn sie von Viren befallen werden.
Nein, man sagt:
Das Virus ist tödlich.
 
Die größte Gefahr besteht darin, dass man kurz hintereinander mehrmals befallen wird. Das geschieht, wenn das Virus sich in einer kleinen Gruppe hin und her ausbreitet. Das ist nichts Neues, es gilt für fast alle Viren. Aber dieses Virus ist anders, es ist groß wie der Große Bruder und überall auf dem Teleschirm.
 
George Orwell hat vorhergesehen, wie sehr die Menschen bereit sind, an eine Parole zu glauben, die immer wiederholt wird. Er hat geschildert, wie die wahren Worte und Tatsachen umgedreht werden:
Virus im Speichel ist Krankheit.
Krankheit ist Tod.
Kontakt ist Rücksichtslosigkeit.
Ungläubige sind Gefahrenbringer.
Denker sind Querdenker.
Zweifler sind Idioten.
 
George Orwell hat vorhergesehen, wie hinter den Kulissen etwas ganz anderes abläuft als in der Öffentlichkeit. Hinter den Kulissen läuft die Wirtschaft weiter, man sieht, wie auf der Autobahn die Schlange der LKWs nicht abreißt, aber die Kinder dürfen nicht zur Schule. An der Börse steigen die Aktien rasant, aber die Läden in der Stadt müssen geschlossen bleiben.
 
George Orwell hat vorhergesehen, wie durch und durch ungerecht ein totalitäres System ist. Die einen sitzen zu Hause und werden voll bezahlt, die anderen werden arbeitslos. Die einen bestellen am Bildschirm alles, was sie wollen, und sie schicken es hin und her, was die anderen für einen Hungerlohn verpacken, transportieren, sortieren, zustellen, wieder abholen, zurückbringen und wegwerfen. Alles ist portofrei, weil die Portierenden nichts verdienen.
 
Wer von der Wirklichkeit wütend wird oder Angst hat, wahnsinnig zu werden, dem kann ich nur empfehlen, zur Ablenkung 2020 - 36 = 1984 noch einmal zu lesen, wenigstens die ersten 150 Seiten, und zu hoffen, dass im Jahre 2020 + 36 die Schulden von 2020 durch die Enkel abbezahlt worden sind und dass die Zukunft sich mehr an die Realität hält als die Gegenwart.
 07.02.2021
Lies dazu auch in klartext:
Von der Grippe zur Psychose in 10 Schritten
 
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Schlechtes Karma

Lesung bei Literatur um 8 in der Location Kulturcafé Lichtung, Ubierring 13, 50678 Köln
 
Wer sich an die Zeit von Konrad Adenauer erinnert, dem wird aufgefallen sein, dass die Regierung Merkel IV die schlechteste Regierung ist, die wir je hatten. Vielleicht knapp erreicht von der Regierung Kiesinger 1966 - 1969. Der wichtigste Grund dafür, dass die Regierung so schlecht ist, ist der, dass keine Probleme gelöst werden.
 
Nun mag es sein, dass viele Menschen gar keine Probleme haben. Das ist mit Sicherheit so. Diese Leute brauchen dann gar keine Regierung, außer vielleicht, um sich von ihr bezahlen zu lassen.
 
Wer aber glaubt, dass man eine Regierung braucht, um gesellschaftliche Probleme zu lösen, der ist frustriert und fühlt sich missachtet wenn nichts passiert. Zu diesen Frustrierten gehören alle, die sich irgendwie für die Zukunft interessieren. Das sind zum Beispiel Kinder, Jugendliche und Menschen, die selber Kinder und Enkel haben.
 
Wer versucht, in die Zukunft zu schauen, kann nur feststellen, dass es abwärts geht. Es geht abwärts mit den Chancen, einen guten Job zu bekommen, es geht abwärts mit den Chancen, gutes Geld zu verdienen. Es geht abwärts mit den Chancen, eine gute Wohnung zu bekommen. Das liegt daran, dass Wohnungen nicht in erster Linie zum Wohnen und zum Leben da sind, sondern als Investition von Geld. Denn Geld ist in riesigem Überfluss vorhanden.
 
Es geht abwärts mit unseren Nahrungsmitteln, nicht weil zu wenig da ist, sondern weil zu viel da ist. Die Qualität der Ware sinkt, weil Lebensmittel nicht in erster Linie zum Essen, sondern zum Geldverdienen produziert werden.
 
Es gibt ein Überangebot an Fleisch, Obst und Gemüse und die Ware liegt lange in den Läden, bis sie endlich gekauft oder weggeworfen wird. Tomaten, Apfelsinen und Frikadellen müssen haltbar sein. Was aber gut haltbar ist, ist schlecht verdaulich, es liegt auf dem Magen, es widersetzt sich der Verdauung und bleibt im Bauch stecken.
 
Dann geht es abwärts mit der Gesundheit, obwohl das Leben sich verlängert.
 
Das liegt nicht nur am Essen, sondern auch daran, dass Medikamente nicht zum Gesundwerden produziert werden, sondern zum Geldverdienen, weil Firmen sich Wirkstoffe patentieren lassen und die Preise selbst bestimmen. Das geht bis zum 100 und 200-fachen von dem, was die Herstellung der Medikamente kostet.
 
Die mangelnde Wirkung von Medikamenten liegt auch daran, dass Präparate, welche Krankheiten heilen, weniger Geld einbringen, als Medikamente, die Krankheiten begrenzen und eindämmen, und deshalb immer weiter eingenommen werden müssen.
 
Etwas Ähnliches gilt für Ärzte. Wer seine Patienten heilt, verdient weniger, als wer sie bestrahlt, mit Ultraschall und Computertomographie untersucht und dann wieder bestrahlt. Wer das macht, verdient ein Vielfaches von dem, was ein Arzt verdient, der sich im Krankenhaus um die Kranken kümmert.
 
Die unglücklichsten Lebewesen auf dem Planeten sind aber nicht die Menschen, auch nicht die Kranken, sondern Tiere, deren Leben keinen anderen Sinn hat, als für den Menschen Nahrung zu liefern. Es sind Milliarden Tiere auf diesem Planeten, die nur dazu leben, um gegessen zu werden und Nahrung zu produzieren.
 
An erster Stelle Geflügel, Rinder und Schweine.
 
Massentierhaltung und Massenschlachtung sind eine Schuld, die der Mensch auf sich lädt, weil er Unmengen an Fleisch, Milch und Eiern konsumieren muss. Wer viel Fleisch isst, will mehr Fleisch essen.
 
Das Ergebnis ist Übergewicht, Völlegefühl, schlechte Verdauung und schlechtes Karma. Viele merken es nicht, wie das schlechte Karma sich vermehrt und üble Laune erzeugt bis hin zur Aggressivität gegen alle, die anders sind.
 
                              Foto: Michael Steinrücke
Aber sensible junge Leute merken es doch!
 
Sie wollen kein Fleisch mehr essen, keine Milch mehr trinken, keine Schuhe aus Leder mehr tragen und nennen es vegan. Sie hoffen, dass sie durch ihre Haltung die Fehler der Allgemeinheit ausgleichen könnten und das Karma verbessern. Das hilft vielleicht denen, die es tun, aber den anderen kann es nicht helfen.
 
Die meisten Konsumenten in der freien westlichen Welt wissen nicht, was schlechtes Karma ist. Karma ist so etwas ähnliches wie das Gewissen mit einem Unterschied, es hat eine zusätzliche Eigenschaft: Das Karma es addiert sich. Das schlechte Karma wird immer mehr, je länger wir das Negative tun oder zulassen, dass es geschieht.
 
Unser Gewissen regt sich nur gelegentlich, wenn wir wieder einmal erfahren, wie Tiere in der Massentierhaltung behandelt werden. Wir haben es am nächsten Morgen schon wieder vergessen.
 
Dann geht man in den Supermarkt und kauft Eier, Milch und Fleisch wie immer, so viel wie gewohnt, weil diese Produkte so billig sind und sich uns in riesigen Mengen aufdrängen.
 
Gewissen hat mit Wissen zu tun. Wenn wir etwas nicht wissen oder es wieder vergessen haben, dann regt sich das Gewissen nicht mehr, es schläft ein wie eine Puppe. Dazu gibt es Ablenkung genug: Kriminalfilme, Nachrichten, Comedy. Selbst Cabaret lenkt uns davon ab, dass in der Politik, etwas geschehen müsste, sofort am nächste Tag, was aber seit vielen Jahren nicht geschieht.

Die Deutschen sind von Natur devotest, alluntertänigst, ehrfurchtvollst. Aus lauter Respekt vor den Ideen verwirklichen sie dieselben nicht.
 
(Karl Marx, Debatten zur Preßfreiheit, 1842)

  • Die Umverteilung von unten nach oben müsste gestoppt werden.
  • Die Spekulation mit Wohnungen müsste gebremst werden.
  • Der Mindestlohn müsste deutlich höher sein.
  • Die internationalen Konzerne müssten richtig Steuern zahlen.
  • Sozialabgaben müsste man auch auf Honorare, Provisionen und Bonuszahlungen erheben, genau wie auf Löhne und Gehälter.
Es gibt genug zu tun. Ganz zu schweigen von der Massentierhaltung und der seriellen Schlachtung, die an jedem Tag schlechtes Karma erzeugt, bis auch denen schlecht wird, die kaum etwas davon essen.
  • Die Politiker hier bei uns erledigen nicht, was am wichtigsten ist.
  • Sie jetten statt dessen in Sonderflugzeugen um die Welt,
  • sie reden mit den Reichen in Davos,
  • sie lassen sich feiern und hofieren in Afrika
  • und lassen sich befragen von kriecherischen Journalisten.
  • Sie erzählen von ihren Erfolgen, von denen wir aber nichts gemerkt haben, außer in der Propaganda, die uns jeden Abend verkündet wird.
Schlechtes Karma sammelt sich an mit jeder Milliarde, die in die Rüstung fließt, um die Tötung von Menschen und die Zerstörung von Ländern vorzubereiten. Schlechtes Karma sammelt sich an mit jedem Panzer, der nach Saudi-Arabien geliefert wird. Schlechtes Karma und Verlust an Glaubwürdigkeit werden größer mit jeder Kriegslüge und Hetze gegen Feinde, die wir uns im Osten erst suchen müssen.
 
Das schlechte Karma sammelt sich an, es wird mehr und mehr, es vergiftet die Stimmung und die Psyche. Es verdirbt uns ständig den Geschmack am Essen, die Gesundheit und die Laune. Schlechtes Karma wird nicht weniger, sondern mehr durch Nichtstun, Vergessen und Schweigen.
 
Es hilft schon ein wenig, wenn wir ab und zu das Maul aufmachen und uns gegenseitig ins Gewissen reden, was hiermit wieder einmal geschehen ist.
 

      2019
     Nachdruck mit Quellenangabe kritlit.de
     
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Die Offene Wunde sind die USA

Vorgetragen beim Open-Mike-Event Die offene Wunde
im Low Budget, Köln, Aachener Str. 47, am 11.05.2019

 
Die offene Wunde, das sind die Vereinigten Staaten von Amerika. Die USA sind das Land mit den höchsten Staatsschulden und den höchste Privatschulden. Die Summe der amerikanischen Schulden macht mehr als ein Drittel aller Schulden der Welt aus.
 
Auf der anderen Seite steht die Wirtschaft der USA. Diese Wirtschaft produziert an erster Stelle nur Geld und an zweiter Stelle Rüstungsgüter, also Waffen. Das Volumen der Witrtschaft ist aber zu klein. Die USA haben ein riesiges Export-Defizit, das sie nur mit neuem Geld stopfen, das aber auf Schulden basiert.
 
Das Exportprodukt Nr. 1 ist der US-Dollar. Der Dollar ist durch internationale Verträge als Leitwährung abgesichert. Aber jedes Geld hat nur einen Wert, wenn dieser Wert anerkannt wird. Die Anerkennung und der Wert des Dollars gehen zurück, weil der Euro und auch die chinesische Währung dem Dollar Konkurrenz machen. Mit anderen Worten: Der Export von US-Dollars stößt an seine Grenzen.
 
Die Konsequenz daraus ist, dass die USA den Export von Waffen forcieren. Man versucht außerdem, mehr Ölreserven unter Kontrolle zu bringen. Das geschieht teils durch Fracking in den USA, teils durch Bedrohung und Militäraktionen gegen Ölförderländer wie Irak, Lybien, Iran und jetzt Venezuela.
 
Die amerikanischen Interessen an Waffen-Export und Kontrolle über Energie summieren sich beim Verhältnis gegenüber Russland. Russland hat riesige Vorkommen an Erdöl und Erdgas und es ist die einzige militärische Macht, vor der die USA Respekt haben. Die Russen können mit Atomraketen jede Stadt der USA erreichen. Obwohl die Militärausgaben der USA schon 13 mal so hoch sind, ist Russland als virtueller Feind für die Rüstungsindustrie unentbehrlich.
 
Aus diesen Gründen wird Russland von der NATO umzingelt und jetzt soll in Europa und Südasien noch mehr gegen Russland gerüstet werden, warum? Um den Export der USA zu stärken.
 
Viele Länder der EU wollen sich daran beteiligen. Das bedeutet, dass die EU die Kontrolle über sich selbst, als Organisation für den Frieden in Europa, verloren hat. Insbesondere Deutschland dürfte als Nachfolgestaat des Dritten Reiches gegenüber Russland nicht aggressiv auftreten. Der von Deutschland angezettelte Zweite Weltkrieg hat 27 Millionen Sowjetbürgen den Tod gebracht. Für neue Feindseligkeiten gibt es weder einen Grund, noch einen Anlass und schon gar keine moralische Rechtfertigung. Es ist militärischer Irrsinn.
 
Dass die Regierung in Berlin die Kriegsvorbereitungen der USA gegen den Willen der Bevölkerung mitmacht, ist nur möglich, weil die Regierung in Deutschland eine Meinungshoheit besitzt. Das haben wir nach dem Krieg, in Westdeutschland bisher nicht erlebt. Aber die Öffentlich-Rechtlichen Anstalten haben sich zum Staatsfunk entwickelt, der durch Zwangsgebühren von allen Bürgern finanziert wird. Über Fernsehen und Rundfunk gibt es Meinungsmanipulation in bisher unbekanntem Ausmaß. Das Paradeschiff der Propaganda ist die Tagesschau. Die Tagesschau verkündet ungeniert jeden Abend die Auffassung der Regierung in Berlin und wird von der Mehrheit der Bevölkerung als Informationsquelle akzeptiert.
 
Die Meinungsmacht von ARD und ZDF und damit die Ansichten der Regierung werden von der Presse nicht in Frage gestellt. Das geschah früher durch den Spiegel. Die Printmedien sind durch das Internet unter Druck geraten. Die Presse schrumpft. Zeitungen reduzieren ihre Belegschaft und dabei verschwindet die Meinungsvielfalt.
 
Jeder, der die Taktik der Amerikaner und die Propaganda der Medien durchschaut, jeder ist aufgefordert, sich gegen die amerikanische Dominanz, gegen die Rüstung und für den Frieden einzusetzen.
 
Das musste mal gesagt werden.
 

 2019
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Mehr Zukunft für alle!
Die EU ist undemokratisch und schwach.
Europa braucht dringend mehr Demokratie.

Lesung bei Literatur um 8 in der Location Kulturcafé Lichtung, Ubierring 13, 50678 Köln
 
Eigentlich wollte ich heute ein Gedicht vorlesen:
Auf meinen Trip durch die endlosen Weiten
der Liebe und Lyrik auf Internet-Seiten...

Aber dann wurde mir klar, ich interessiere mich jetzt mehr für Internet-Demokratie.

 
Am 26.Mai sind in Deutschland die Wahlen zum Europa-Parlament. Diese Wahlen werden eine Wirkung auf die Stimmung in Deutschland haben, aber in Europa ändern sie nichts.
 
Das EU-Parlament ist kein Parlament im üblichen Sinn. Ein Parlament bestimmt, wer regiert. Das europäischen Parlament bestimmt nicht die Kommission, es hat keinen Einfluss auf die Gipfeltreffen, es hat auch keinen Einfluss auf den Brexit. Aber es hat 751 Abgeordnete und 10 mal so viele Angestellte.
 
Europa wird von vier Gremien gelenkt. Das Parlament ist als letztes hinzu gekommen und hat die geringste Macht.
 
Die drei anderen Gremien werden von den Regierungen der Staaten gebildet. Dabei sind alle Staaten gleichberechtigt. Malta sendet genau so einen Vertreter wie Deutschland. Dieser Kommissar oder die Kommissarin vertritt aber nicht Malta, sondern ein Ressort. Kommt ein neues Land hinzu, gibt es ein neues Ressort. Institutionalisierte Inkompetenz.
 
Die Gesetze der EU bestimmt an erster Stelle der Rat der Europäischen Union, der Ministerrat, auch kurz Rat genannt. Der Rat wird von den Regierungen nach deren Ermessen aus Ministern aller Länder gebildet. Alle Länder, groß wie klein, sind gleichberechtigt. Der Rat ist das bestimmende Organ der EU, hat aber keine Macht über die Länder.
 
Der Rat der Europäischen Union muss die wichtigsten Fragen einstimmig beschließen. Wenn nur eine Regierung nicht will, stimmt sie dagegen und die Sache ist gestoppt. Wenn der Rat etwas gegen Korruption beschließen will, stimmt Rumänien dagegen und die Sache ist gestorben. Ist die rumänische Justizministerin trotzdem dafür, dann ruft der rumänische Parteichef seine Kollegen in Ungarn oder Polen an und die Sache wird abgeblockt.
 
Wenn der Rat gegen Steuerflucht und Steueroasen vorgehen will, dann stimmen Luxemburg und Irland dagegen und die Sache ist gestorben. Der Rat der Europäischen Union ist die organisierte Ohnmacht.
 
Wenn die großen Länder Frankreich, Deutschland, Italien, Spanien und Polen die Verfassung der EU demokratisieren wollen, so dass die Mehrheit der Bürger etwas zu sagen hat, dann sind Lettland, Estland, Litauen, Irland Luxemburg, Malta, Zypern und die Slowakei dagegen und die Sache kommt erst gar nicht auf den Tisch.
 
Die EU, ist keine Demokratie, sondern das Europa der Politiker. Die Regierungen der Kleinstaaten sind in der Übermacht. Manche dieser Kleinstaaten sind kleiner als große Firmen. Kleiner als Amazon, Google, Apple, kleiner als VW, Bayer, Shell. Solche Firmen können ganze Länder wie Malta oder Lettland kaufen und sie verfügen in Brüssel über 20.000 Lobbyisten.
 
Die einzige Rettung ist die Einführung von Demokratie und weil es Demokratie in so einem Gebilde wie die EU noch nie gegeben hat, brauchen wir eine neue Form von Demokratie.
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Bis hier ist alles, was ich vorgetragen habe, nur eine Aufzählung von Tatsachen, die von Politikern und Medien verschleiert werden. Jetzt kommt ein Plan für die Zukunft: Direkte Digitale Demokratie für Europa.
 
Das Vorbild ist die Schweiz. Dort hat man vor 170 Jahren in einem kleineren Modell das geschafft, was Europa noch vor sich hat: Die Einigung zu einem demokratischen Bundesstaat. Auch dort gab es viele kleine Staaten und Regionen unterschiedlicher Kultur, es gab keine Landessprache, sondern fünf verschiedene Sprachen, die es auch heute noch gibt. Man hat sich trotzdem mit Direkter Demokratie geeinigt, denn das ist die beste Methode in so einem Gebilde:
 
Direkte Entscheide über Sachfragen sind einfacher als Debatten in einem Parlament mit vielen Sprachen. Und die erste Sachfrage war damals folgende: Wollt ihr mit den anderen einen Bundesstaat bilden? In der Schweiz hat eine Mehrheit dafür gestimmt, nicht in allen Kantonen. Die sind dann per Entscheid später zum Bund hinzu gekommen.
 
Genau so könnte man in Europa vorgehen, aber alle Politiker sind dagegen, weil sie durch die EU so viele Vorteile haben: Sie können auf einer zweiten Ebene agieren auch wenn sie im eigenen Land keinen Erfolg mehr hatten. Sie können unangenehme Entscheidungen auf Brüssel schieben, sie können unbeliebte Parteigenossen für das EU-Parlament aufstellen. Europa ist das Europa der Politiker und die werden es nicht freiwillig abgeben.
 
Gegen diese aussichtslose Situation gibt es ein Mittel, das in Italien bereits praktiziert wird: Eine politische Bewegung, die sich über das Internet organisiert und bei Wahlen als Partei auftritt. Eine neue Form der politischen Organisation.
 
Was ist in Italien geschehen? Auch darüber haben uns Medien und Politik falsch informiert. Die stärkste Kraft im italienischen Parlament ist die 5-Sterne-Bewegung. Über die wird viel Unwahres erzählt: Es sei eine links-populistische Partei und der Komiker Beppe Grillo wäre der demagogische Führer.


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Die 5-Sterne-Bewegung basiert auf einem Internet-Forum, das der IT-Unternehmer Gianroberto Casaleggio erfunden und realisiert hat. Wer dort Mitglied ist, kann diskutieren und sich per online-Abstimmung als Kandidat aufstellen lassen. Mit solchen Kandidaten tritt die 5-Sterne-Bewegung bei Wahlen an und jeder Italiener kann den M5S wählen, ohne sich an der Online-Demokratie zu beteiligen. Die Wähler profitieren von der demokratischen Auswahl ihrer Kandidaten.
 
M5S betreibt eine Form von Direkter Demokratie, an der man viel kritisieren kann, denn alles ist neu und unausgegoren, aber es hat funktioniert. Das Modell der klassischen Partei aber stammt aus der Zeit von 1850 und hat längst ausgedient.
 
Entscheidend für so eine Bewegung ist das eigene Forum. Alle anderen politischen Bewegungen im Internet basieren auf kommerziellen Kontakt-Maschinen wie Facebook, Twitter, Whatsapp, die zum Gelderwerb für ihre Besitzer da sind. Das hat bisher noch nirgendwo auf Dauer funktioniert.
 
Ein Grund dafür ist der, dass die Kontaktmaschinen ihre Accounts nicht nur an Wähler vergeben, sondern auch an Organisationen, Parteien, Firmen, Vereine, und anonyme Teilnehmer, sogar an digitale Roboter, sogenannte Bots.
 
Das Modell der 5-Sterne-Bewegung ist auf Europa übertragbar. Man gründet eine Bewegung für Direkte Europa-Demokratie DED und die tritt in allen Ländern als Partei auf. Weil es bei der Europa-Wahl keine 5%-Hürde gibt, ist der Start leichter als in Deutschland. DED soll eine paneuropäische Partei sein, die das Ziel hat: Direkte Demokratie in der EU.
 
In Wirklichkeit ist es gar keine Partei, sondern eine im Internet organisierte Bewegung Direkter Digitaler Demokratie, die man in allen Ländern wählen kann.
 
Was uns dazu noch fehlt, ist ein Forum mit demokratischer Software, die dann in alle Sprachen übersetzt wird.
 
Diese Geschichte hat kein Ende, sie fängt gerade erst an.


Diskussion
 
In der anschließenden kurzen Diskussion
war das Hauptargument Salvini. Dieser Rechtspopulist hat inhaltlich nichts mit der 5-Sterne-Bewegung zu tun.
 
Salvini ist ein Argument gegen sich selbst, gegen seine Partei und seine Flüchtlingspolitik und, wenn man es nicht so genau sehen will, gegen die italienische Regierung, deren lautester Vertreter er ist. (Wer die deutsche Regierung nach dem Innen- und Heimatminister Seehofer beurteilt, hat ebenfalls ein schräges Bild.)
 
Salvini ist kein Argument gegen die 5-Sterne-Bewegung oder gegen Direkte Demokratie, denn Salvini ist nach den bestehenden Verfassung durch die Bildung einer fragwürdigen Koalition an sein Ministeramt gekommen.
 
Und das geschah im Rahmen der Parlamentarischen Demokratie, welche, wie in Deutschland, auch ungeliebte Koalitionen produziert. Das gilt für Italien noch mehr, wo der Präsident nur jemanden zum Ministerpräsidenten ernennt, der eine Mehrheit im Parlament hat.
 
Ob es richtig war, diese Koalition zu bilden, ist eine andere Frage. Hier geht es darum, dass eine radikaldemokratische Bewegung wie M5S die stärkste Fraktion im Parlament geworden ist. Damit wurde verhindert, dass Leute wie Berlusconi oder Salvini Italien regieren. Regieren gegen den M5S ist jetzt in Italien unmöglich.
 
Salvini ist nur Innenminister und versucht sich aufzuspielen. Bei der nächsten Wahl wird sich zeigen, ob er mehr oder weniger Stimmen mit seinem Rechtspopulismus bekommt.

      17.04.2019
     Nachdruck mit Quellenangabe kritlit.de
     

Link zum ausführlichen EU-Essay:


"Wie aber der Riese Antheus unbezwingbar stark blieb, wenn er mit dem Fuße die Mutter Erde berührte, und seine Kraft verlor, sobald ihn Herkules in die Höhe hob, so ist auch der Dichter stark und gewaltig, so lange er den Boden der Wirklichkeit nicht verlässt, und er wird ohnmächtig, sobald er schwärmerisch in der blauen Luft umherschwebt."
 
Heinrich Heine, 1797-1856
Wikipedia
 
Heinrich Heine, eigentlich Harry Heine, war der größte deutsche Lyriker. Er entstammte einer jüdischen Familie, war aber ungläubig.
 
Seine Lyrik ist fast immer gereimt, rhythmisch, oft als Liedtext geeignet z.B, "Am Brunnen vor dem Tore", meistens aber politisch radikal und sein Buch der Lieder hatte Welterfolg.
Sein bekanntester Spruch:
Denk ich an Deutschland in der Nacht,
dann bin ich um den Schlaf gebracht.

 
Die deutsche Lyrik 2018 ist das genaue Gegenteil: Formal beliebig, Reime sind selten, das Versmaß undurchsichtig. Politik bleibt den Kabarettisten und Liedermachern überlassen. Bei jedem Lyrik-Wettbewerb würde Harry Heine heute durchfallen; das heißt, er würde nicht in die Auswahl der Einsendungen kommen, die der Jury vorgelegt wird.
 
Deutschland ist wieder, wie damals, ein Wintermärchen, hoffen wir, dass es nicht noch einmal zur Gruselgeschichte wird.


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Kopfsalat und Dichter Nebel

Eine Geschichte aus der Szene der Poetry-Slammer
nach einer wahren Begebenheit.

 
Es war Köln in der guten alten Zeit zu Anfang des dritten Jahrtausends, als die große Buchhandlung am Neumarkt zur Aposteln-Kirche hin, noch Buchhandlung Gonski hieß. Monat für Monat veranstaltete diese Firma im Studio 672, im Keller des Stadtgarten-Restaurants, einen Abend, der sich Kopfsalat nannte. Dabei handelte es sich um ein Poetry-Slam.
 
Wer nun wissen will, was Poetry-Slam bedeutet, sollte mal hingehen; es ist mittlerweile eine Art Volkssport geworden. Poetry-Slam ist ein Literatur-Event. Es findet meistens in Cafés, Kneipen oder Diskotheken statt. Eine handvoll Poeten, insbesondere solche, die sich dafür halten, haben einen kurzen Auftritt mit dem Vortrag eigener Dichtkunst. Noch am gleichen Abend wird vom Publikum per Abstimmung einer zum Sieger erklärt.
 
Eine besonders demokratische Regel bei der Zulassung der Kandidaten ist, dass jeder Poet Zugang zur Bühne hat. Der Kandidat benötigt keine guten Beziehungen und kein Netzwerk im Hintergrund, er muss sich nur selbst entdeckt haben und beim Veranstalter melden. In jenen Zeiten beim Kopfsalat war es noch so, dass man oder frau sich unmittelbar vor dem Slam am Eingang des Stadtgartens mit folgenden Worten anmelden konnte:
 
   
 
"Ich will auftreten."
Das genügte als Bewerbung. Der oder diejenige bekam dann freien Eintritt, wurde auf die Liste der Slammer gesetzt und musste später auf die Bühne kommen und seine selbst verfassten Dichtungen aufsagen oder vorlesen.
 
Beim Poetry-Slam ist an Hilfsmitteln nichts erlaubt außer einem Skript und eventuell einer Lesebrille; kein Musikinstrument, kein Plattenspieler zum Scratchen und keine Begleitpersonen. Zur Verfügung gestellt wird ein eingeschaltetes Mikrofon und die auf fünf Minuten limitierte Vortragszeit. Wenn die Zeit vorbei ist, wird der Vortragende abgepfiffen. Am Ende entscheidet das Publikum über den Sieg.
 
Beim Kopfsalat im Stadtgarten fand sich damals eine Zuhörerschaft aus ernsthaft an Literatur interessierten Leuten ein: Von Abiturientinnen mit Migrationshintergrund, die mit ihren Kopftüchern in der ersten Reihe saßen, bis zu Veteranen der Kultur-Szene mit violett getönten Haaren und Halbbrillen. Darunter Herrschaften, die es sich leisten konnten, Whisky und Champagner zu trinken. Eine wirklich interessante Mischung aus der Kundschaft jener Buchhandlung nebst Bier trinkenden Studenten, die einfach gekommen waren, weil es sich um ein Event handelte.
 
Dieter Nabel, der Held dieser Geschichte, war einer von diesen Studenten. Er studierte Germanistik im fünften Semester und hielt sich für einen Lyriker. Er war aber schüchtern wie viele Lyriker. Seine Poesie hatte etwa folgendes Format:

der märzvogelwind
weht früh morgens um fünf
wenn ein singender star mich weckt
im grenzbereich
zwischen tränen und wind
wurde ich von vögeln erschreckt
ich warte auf dich
und ich sehe die Zeit
in Herbststrohballen gerollt
und ich zähle die Stunden
bis zweitausendzwei
danach ist es vorbei...
     
 
Dieter schrieb seine Gedichte wie die meisten jungen Dichter direkt am PC und druckte sie mit der Schrift-Type Verdana sechzehn Punkt auf farbiges Papier, das er in einen besonders dünnen Ordner heftete. Gelesen hatte das noch niemand.
 
Regelmäßig, jeden ersten Montag im Monat, stand Dieter beim Kopfsalat in einer schüchternen Ecke, drehte sein Kölsch-Glas in der linken Hand und stellte sich vor, er würde auf der Bühne Gedichte vortragen. Diese Vorstellung konnte auch unangenehm werden, denn das Publikum war nicht frei von Buh-Rufern aus der HipHop-Szene, Studenten in angetrunkenem Zustand, die ihre gute Erziehung aus der 68er Bewegung vergessen hatten.
 
Es gab aber auch unter den Poeten solche, die beim Publikum für richtige Brüller sorgten. Wenn zum Beispiel eine Studentin mit starkem französischem Akzent beim Vorlesen auf der Bühne nicht nur ihr Liebesleben preisgab, sondern auch ihren zarten Busen entblößte und wie la Liberté in dem berühmten Gemälde von Delacroix mit nackt aufstrebenden Brüsten die Freiheit der Literatur verkündete, da johlte die Masse. Aber am Ende war man doch so fair, sie nicht auch noch gewinnen zu lassen. Die deutsche Literatur-Szene verlangte in jenen Tagen noch etwas mehr als einen nackten Frauenkörper. Es war die Zeit vor den Feuchtgebieten und diversen Wanderhuren.
 
Dieter Nabel spürte beim Betrachten dieses literarischen Entblätterns tief in seinem Innern, dass er mehr als solche nackten Tatsachen zu bieten hatte. Seinen grau-grünen Ordner mit Poesie hatte er aber noch zu Hause gelassen. Doch er schwor sich, das nächste mal würde er selber hier auftreten. Er wollte beim Kopfsalat vorlesen und ahnte schon, er würde den Preis gewinnen.
 
Und so kam es auch. Beim nächsten Kopfsalat brachte er verstohlen seine Mappe mit, wagte es allerdings noch nicht, sich am Portal anzumelden, sonder er zahlte bereitwillig sein Eintrittsgeld.
 
   
 
Doch beim über-über-nächsten mal, es war inzwischen November geworden, kam er eine halbe Stunde vor Beginn der Veranstaltung, ging mutig zum Eingang der Kellerdiskothek und sagte den entscheidenden Satz:
"Ich will heute vorlesen."
"Wie heißt du?"
"Ich heiße Dieter."
"Dieter was?"
"Dieter Nabel."
"Okay, du bist auf der Liste und wirst dann aufgerufen, viel Erfolg auf der Bühne!"
 
Das Mädchen an der Kasse kritzelte seinen Namen auf ein Stück Papier und Dieter war drin. Und er hatte Glück. Der Abend verlief etwas steif. Die Französin mit den schönen Brüsten tauchte nicht wieder auf, alle Vorträge wirkten laff und das Publikum trank viel.
 
Moderatorin Carla, eine Angestellte der Buchhandlung Gonski, war genervt, es gab nichts zu loben und nicht viel zu beklatschen. Nach einer langweiligen ersten Stunde sah sie auf ihren Spick-Zettel und verkündete hoffnungsvoll in den überfüllten Raum:
"Der nächste Slammer ist ein völlig neuer Auftritt hier. Es wird eine Premiere bei Kopfsalat sein. Wir freuen uns auf Dichter Nebel!"
 
Carla hatte sich verlesen. Da stand nicht Dichter Nebel, sondern Dieter Nabel. Sie konnte die Schrift des Mädchens von der Kasse nicht richtig entziffern und machte daraus Dichter Nebel, wahrscheinlich weil sie an diesen Kinderwitz dachte:
Wer war der erste Dichter?
Atwort: Dichter Nebel.
Denn: Dichter Nebel lag über den Wassern. (Erstes Buch Moses.)
 
Niemand rührte sich. Carla wartete zwanzig Sekunden und rief dann noch einmal:
"Wir wollen den ersten Dichter der Welt hören! Dichter Nebel, wo steckst du? Du hast dich heute doch als erster hier angemeldet!"
Da wurde dem Dieter klar, dass er gemeint war und mit wankenden Knien kämpfte er sich aus seiner schüchternen Ecke bis auf die niedrige Bühne. Den grau-grünen Ordner mit seiner Lyrik hielt er steif unter den Arm geklemmt.
 
Carla blieb locker. Sie war es gewohnt mit Dichtern umzugehen, die noch mehr Lampenfieber hatten als sie selbst. Sie deutete auf das Mikrofon, sie sprach ein paar beruhigende Worte, erwähnte noch einmal den Namen Dichter Nebel, ohne dass Dieter ihr widersprach, und dann ließ sie ihn allein mit seiner Mappe, dem Mikrofon und dem bereitwillig lauschenden Publikum.
 
Dieter öffnete seinen Ordner, räusperte sich zweimal und begann zu lesen:

Graffiti:
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Der märzvogelwind
weht frühmorgens um fünf...
 
Da schoss es ihm blitzartig durch den Kopf: Es war jetzt November und elf Uhr abends. Der Märzvogelwind frühmorgens um fünf... das war das falsche Gedicht zur falschen Zeit! Aber jetzt war es zu spät. Er hielt sich an seiner Mappe fest, starrte ins Mikrofon und, obwohl ein leises Kichern im Publikum begann, öffnete er mutig seinen Mund:
 
wenn ein singender
star mich weckt
im grenzbereich
zwischen tränen und wind...

 
Das Kichern wurde lauter. Andere Zuhörer zischten dagegen, um das Gelächter abzuwürgen. Von der Bühne aus gesehen stand über dem Publikum so etwas wie leichter Nebel, aber Dichter Dieter musste weiter lesen und er befürchtete schon, dass er mit dem Märzvogel-Wind heute nicht den ersten Preis gewinnen würde.
 
Halb stotternd, halb trotzig blieb er stecken. Er griff in die Mappe, legte das Blatt Märzvogel-Wind einmal um, blätterte wieder zurück, und setzte von Neuem an:

zwischen tränen
und wind...

 
Und wieder kam Lachen von der Theke her.
 
War es jetzt Verwirrung? War es Zufall oder eine geniale Idee? Dieter begann zu stottern, verlas sich, setzte neu an und veränderte halb aus Dusseligkeit, halb aus Trotz ein einziges kleines Wörtchen in seinem Text:
 
wenn ein... singeder star mich weckt
im grenzbereich zwischen tränen und wind wurde ich
beim Vögeln erschreckt...

 
Beim Vögeln erschreckt!
Das Publikum brüllte vor Vergnügen. Dieser schüchterne Typ da mit seiner Mappe, beim Vögeln erschreckt! Die Kölsch-Studenten hoben ihre Gläser und prosteten ihm zu.
 
Dieter las stotternd weiter. Manchmal unterbrach er sich selbst und wartete, ob Gelächter aufkommen würde, und es kam! Dann las er wieder und veränderte ab und zu ein kleines Wörtchen. Er las auch verschiedene Varianten und schließlich schob er auch seine verzweifelten Nebengedanken ins Mikrofon.
 
ich warte auf dich...
warum, warum warte ich denn?
auf wen? auf dich?
auf sie?
nein ich sehne mich!
Ja das ist besser:
 
Ich sehne mich
und ich sehe die zeit
Ich sehe die zeit?
Kann ich Zeit sehen?
aber ich sehe ja die zeit
in herbststrohballen gerollt
Was ist das jetzt schon wieder?
Herbststrohballen?
Was heißt das denn?
sehe nicht die Zeit, ich sehe Strohballen!
 
Das, das ist eine Metapher!
Im Herbst, da rollt die Zeit unter uns weg.
beim Vögeln
auf runden Strohballen.

 
Auch an dieser Stelle kam wieder ein lauter Brüller von der Theke her. Und das gehobene Publikum stieg langsam von seiner literarischen Erwartungshaltung herunter in die Niederungen des Amüsements und klatschte gnädigen Beifall. Dieter las, stotterte und improvisierte weiter:
und, und
ich zähle die stunden
bis zweitausendzwei
nein, besser die Nummern
ich zähle die Nummern
bis zweitausendzwei nein!
Zweitausenddrei!
danach ist es vorbei...

 
Dichter Nebel alias Dieter Nabel wurde der Sieger an diesem Abend und im nächsten Monat trat er wieder auf beim Kopfsalat. Er gewann noch einmal als verhinderter Poet, der den Kitsch seiner Poesie schüchtern, aber raffiniert dem Gelächter preisgab. Aus dem Poetry-Slam wurde eine Casting-Show für den Comedy-Nachwuchs und aus Dichter Nebel wurde ein erfolgreicher Comedy-Act.

Die vorhergehende und die folgende Story aus dem Band
  Köln, wo wir uns trafen  
 

                           


Autor:     2012 
          alle Rechte vorbehalten
          

Tahiti auf der Schildergasse

Kurze 10 min Version, wie bei "Literatur um 8" gelesen am 18.02.2016, Cafe Central, Köln
 
Es war windig und kalt, besonders unten am Rhein. Der Wind zerrte wild an einer Plakatwand. Das Bild auf dem Poster zeigte eine Südseelandschaft mit einer großen Palme und auf dem weißen Sandstrand lag ein Mädchen in einem äußerst knappem Bikini. Sie machte Werbung für billige Flugreisen nach Tahiti. Dabei war leicht zu erkennen, dass die junge Frau in die Traumlandschaft nur hinein kopiert worden war.
 
Von der nächsten Straßeneinmündung her tauchte der rote Schnellaster einer Plakatfirma auf mit frischem Material. Die beiden Plakatankleber parkten ihren auffälligen Pick Up ziemlich unverschämt auf dem Bürgersteig. Sie luden als erstes eine kleine Leiter aus Aluminium ab. Dann machten sie sich daran, lose Papiefetzen von der Wand zu zupfen. Die Reklamebraut sah mit Schrecken ihr nahes Ende in der Südsee-Werbung auf sich zu kommen.
 
Ein Zittern ging durch die Landschaft auf dem Papier; sie wellte sich ein wenig und ganz langsam löste sich ein Fuß, ein Bein und schließlich der gesamte Unterleib der Schönen von der Werbefläche. Sie stieg vorsichtig in ihrem blauen Tanga-Slip auf die oberste Sprosse der bereitstehenden Aluminium-Leiter. Ihr Oberkörper löste sich aus dem Schatten der Palme und ehe es die beiden Reklame-Fritzen registrieren konnten, stieg die Südsee-Braut aus dem Bild über das Aluminium-Leiterchen bis aufs Trottoir.
 
Sie war wenigstens drei Meter groß.
 
Trotz ihrer Lebendigkeit schien sie nur zweidimensional zu sein, so flach wie dickes Papier. Von der Seite war beinahe nichts zu erkennen. Erst als der eine Werbe-Mann das Südsee-Plakat ganz abreißen wollte, stellte er verblüfft fest, dass sich auf dem Bild etwas verändert hatte:
"Dat Mädsche is vum Plakat jehopst!" rief er verblüfft.
"Die hat wohl Angst vor'm Abreiße jekrischt."
"Isch han er doch nix jedonn."
 
Unterdessen wankte die Reklamebraut mit ihrer windschiefen Kontur schon am Rheinufer entlang und weil sie den Wind im Rücken hatte, kam sie schnell voran. So gelangte sie bis zur Innenstadt und ließ sich vor der Deutzer Brücke nach links treiben. Sie suchte ein Reisebüro, um dort ihren Werbevertrag einzulösen. Man hatte ihr nämlich für das appetitliche Foto und einige andere Gefälligkeiten eine echte Reise nach Tahiti versprochen.
 
Eine lebendige Dreimeter-Frau im Tanga-Slip mitten auf einer belebten Einkaufs-Straße zieht gewaltig die Blicke auf sich. Als der Wind sie versehentlich in die Nähe von Tram-Gleisen blies, kreischte laut die Straßenbahn. Der Fahrer ließ vor Schreck den Zug entgleisen und griff sofort zum Not-Telefon.
 
Am anderen Ende der Leitung meldete sich Britta, unsere freundliche Polizistin:
"Dat is ja unerhört, ich komme sofort."
Während Britta sich ein paar chice Handschellen in die Gesäßtasche steckte, erreichte die Sensationsmeldung von der frei herumlaufenden Reklamebraut bereits die nächste Fernsehdirektion. Ein Kamerateam mitsamt Reporter setzte sich in Bewegung und kam noch vor der Polizei in der Fußgänger-Zone an.
Polizistin Britta war aber zuerst dran.
 
Die zwei Frauen schauten sich gegenseitig von oben bis unten an. Mit wachsendem Respekt.
"Wieso bewegen Sie sich so leicht bekleidet durch die Fußgänger-Zone?"
"Oh, entschuldigen Sie, das ist nicht meine Schuld. Ich bin über eine Vermittlungsagentur an diesen Job gekommen. Und die haben mich über den Tisch gelegt. Eine Zweitarbeitsfirma hat mich dann weiter vermittelt an diese Billigfluggesellschaft Null-Euro-Airline. Die haben mich verkackeiert. Ich habe keinen Cent mehr in der Tasche. Um mir was zum Anziehen zu kaufen. Ich bin froh, dass ich noch meinen Slip an habe. Der Tanga ist übrigens ein Luxus-Modell."
 

Das sehe ich, dachte Britta, sie griff unwillkürlich an ihre Gesäßtasche und stopfte die Handschellen tiefer nach unten. Dann fragte sie neugierig:
"Und was haben Sie jetzt vor?"
"Ich, ich demonstriere für bessere Arbeitsbedingungen, für Winterbekleidung und Foto-Shootings in der echten Südsee. Ich suche dringend nach einem Reisebüro, Frau Komissar, die Firma Null-Euro-Air schuldet mir einen Flug nach Tahiti."
"Oh, Tahiti, das Reisebüro nach Ozeanien. Da müssen se hier über den Zebrastreifen und in die Schildergasse. Und am Ende um die Ecke bis zum Belgischen Konsulat. Die können ihnen bestimmt weiter helfen."
"Oh, vielen Dank, Frau Polizei."
"Nenn mich einfach Britta und halt die Backen steif!"
"Leider ist das nicht so einfach, Britta, ich heiße Flitzi, ich bin so flach wie ein Poster." Die beiden Frauen lachten laut und verabschiedeten sich mit Affen-Handschlag wie die Mitglieder einer HipHop-Crew.

Ich darf nicht so viel Aufsehen erregen, dachte Flitzi, wenn mehr Polizei auftaucht, gibt es Ärger.
Doch der Ärger war schon da. Das Fernsehteam hatte nur auf den Abgang der Polizistin gewartet und versperrte der Reklamebraut den Weg. Ein zwergenhafter Reporter reckte seinen Arm mit dem Mikrofon nach oben, während er wild versuchte, einen mediengerechten Text zu formulieren:
"Meine Damen und Herren, wir berichten hier schon seit Jahr und Tag über den Alltag in diesem gestressten Einwanderungsland. Durch den Einfluss von radikalen Islamisten ist der Konsum von knapper Badebekleidung so weit zurückgegangen, dass unsere Models arbeitslos werden und zu Protesten schreiten."
 
"Mach's kurz, du Zwerg", zischte Flitzi, "ich bin beinahe auf Abflug."
"Oh, das macht nichts. Wir sind schon auf Sendung. Wie ist die Stimmung der demonstrierenden Models für Reizwäsche in der Außenwerbung?"
"Die Plakat-Werbung in der Außenstadt? Die bringt nichts mehr; zu viel Wind und zu wenig Stoff. Oft müssen mehrere Mädchen auf einem Poster hinter winzigen Fetzen in der Kälte bibbern. Wir streiken für beheizte Werbeflächen und mehr Textil auf der Haut! Und weniger Gefälligkeits-Sex..."
 
Der Fernseh-Fuzzi nickte begeistert, das war ein Thema für das Vorabendprogramm, appetitanregend und fleischig.
"Sie haben Recht, junge Frau. Es wäre genug Stoff vorhanden, um damit direkt für Textilien zu werben, ohne dabei so viel von ihrem bloßen Hintern zu zeigen."
"Mein Hintern ist okay, Kleiner, nur ein wenig flach. Ich werbe nicht für Textil, sondern für Sonne. Aber ständig Sex mit Kollegen, das muss nicht sein, besonders nicht im Verkehr. Wir stehen ja meistens an einer Wand, wo Autofahrer im Stau hängen und uns durch ihre getönten Fensterscheiben anglotzen." Der Reporter nickte bestätigend und fabulierte:
"Ja, liebe Autofahrer, immer die Hände hübsch am Steuer halten! Was Frau Flitzi da thematisiert, ist ein echtes Verkehrsproblem."
 
Vorsichtig schaltete er sein Mikrofon aus und machte flüsternd ein ganz persönliches Sonderangebot:
"Hör mal, Süße, ich könnte dich ganz groß raus bringen. Im Fernsehen. Du brauchst nur zu mir ins Studio zu kommen, damit ich von dir ein paar exakte Standfotos mache. In verschiedenen Stellungen."
"Was? Du Giftzwerg! Verschiedene Stellungen fürs Fernsehen? Du Wichser! Nur die fest Angestellten sind da in Stellungen, sie sitzen mit ihren dicken Ärschen auf den Gehältern, in Vollzeit und sicher. Uns Kreative behandeln sie wie Dreck! Ich will jetzt erst mal nach Tahiti! Mal ausspannen, ohne Spanner, ohne Kamera und ohne Obenohne und völlig ohne Sex! Nicht mal dran Fummeln. Verstehste? Und da kommst du mit Stellungen im Studio! Verpiss dich!"
 
Ein kräftiger Windstoß erfasste die plakative Schönheit und blies ihre zweidimensionale Gesamtheit in die Lüfte. Sie flog hoch oben über die ganze Stadt und landete direkt an der Rauhfaser-Tapete, da wo ich saß.
 
Die freche Flitzi war noch regenfeucht und blieb an der Wand kleben. Da hat sie mir das alles haarklein erzählt, bei einem Milch-Kaffee und ein paar Bio-Keksen, genau so, wie ich es aufgeschrieben habe.
Und ich möchte dieser authentischen Geschichte auch nichts hinzufügen.

Autor:     2012 
          alle Rechte vorbehalten
Die vorhergehende und die folgende Story stammen aus dem Band   Köln, wo wir uns trafen  

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Free Jazz

Text-Impression einer wilden Free-Jazz-Session irgendwann und irgendwo. In Erinnerung an und zu Ehren von:
Irene Schweizer, Peter Brötzmann, Han Bennink, Peter Kowald, Alexander von Schlippenbach, Mani Neumeier, Manfred Schoof, Gunter Hampel, Gerd Dudek, Paul Lovens, Dietrich Rauschtenberger. Und Robert Wenseler als Programm-Gestalter im Malteserkeller, Aachen.

 
Es ist Verlass auf den Bass.
Und federnd nass im Gesicht ganz blass, chromatisch von oben bis unten gebürstet und blank poliert, harmonisch gezupft, synkopisch gerupft, tänzelnd akzentuiert. Der Schwager am Schlagzeug hat es zuerst kapiert.
Er schlägt uns eine Schneise in das Dickicht der reinen Unvernunft, wo exotische Schlingrosen über moosig gelbe Baumstümpfe kriechen und dann langsam innerlich zerrosten.
Wie der Westen im Osten.
Bis das blanke Fell auf der Trommel krepiert.
 
     
 
Vorsicht hier irgendwo ist der akustische Untergrund mit Pop und neuromantischem Kitsch kontaminiert! Nicht stolpern und nicht versinken im stinkenden Klärschlamm der ständig sich wiederholenden Riffs. Nur ein falscher Griff in die Klamottenkiste und das Saxofon kotzt. Kotzt gelben Konfektions-Schleim über die glitschigen Geigen bis in den Zuschauerraum.
Aber nein!
Es ist Verlass auf den Bass und auch die Basstrommel stampft stur über Stock und Stein, Arm in Arm, so leicht legt man uns nicht rein! Wir wandeln auf dem Grat zwischen glaubwürdigem Chaos und ewig zerdeppertem Paradies.
 
Tom, Tom, sei jetzt nicht fies!
Wir alle stürzen uns gemeinsam auf die spröde Snare.
Ja, komm her! Wir legen uns auf diese Braut.
Mit unseren unverschämten Sticks hämmern wir auf das Becken einen scharfen Twist und dann runter und rein in den Keller und dann von hinten drauf und immer schneller.
 
Einige der Zuhörer wissen es schon:
An dieser Schwelle
zur ersten Hölle
explodiert ein Saxofon.
Mit dem Kopf durch das Mundstück in den Hals und
raus aus dem Trichter, raus
und rein in das vollbesetzte Straßencafé.
Und das Horn ist vorn.

 
Jetzt schnell ein paar frische flinke Fingerwirbel und noch mehr Beckenpeitsche und vorwärts drauf! Und dann direkt mit einem Satz über die Rampe ins Publikum.
Keiner dreht sich um!
Klangfetzen treiben uns vorwärts zwischen die Beine der Verwandten und Bekannten, wir blasen durch fremde Lippen, geigen durch verbotene Kanäle, eine verlogene und leicht verbogene Theologie.
Aber ohne Absolution, absolut unberechenbar. Einfach einseifen, einpeitschen und gemeinsam reinreiten. Das ist unsere Politik.
 
Und am Himmel zwitschern die Triller mit dem plattgedrückten Daumen und der Mund bläst prall in die Backen, stößt ins Rohr. Der Drummer peitscht die Herde quer über den ausgetrockneten Fluss bis zur Grenze. Ganz hinten am Horizont die blauen Berge. Rinder, Millionen Rinder, Bullen, die sich aufbäumen und ihre gequälte Seele in die verseuchte Luft röhren.
Das.
Das.
 
Das alles bringt den rundköpfigen Schlagzeuger in seiner asketischen Schießbude noch nicht in Rage.
Er streichelt sanft die Flanken der Becken und die Kante der Snare mit verdächtig dicken Stöcken doch ganz leise und verspielt, wie geflüstert, so scheinheilig fromm, und dann urplötzlich dreht er auf.
Losgeprügelt, gehämmert, gerädert, getreten und hinabgestoßen!
Bis dass,
dass,
dass die Motoren der antiken Rennwagen anspringen und mit verminderten Intervallen hysterisch aufheulen. Und im vollem Touren-Bereich geht es glissando in die gefürchtete Haarnadel-Kurve vor der Zielgeraden, haarscharf an der Planke entlang, wo der drahtige Bassist neben der Piste seine riesige Rotzfahne schwingt.
 
Das ist das Zeichen zum endgültigen Überfall.
Sie attackieren im Fünfer-Takt, durchbrechen die letzte melodische Absperrung und ruck zuck, atonal,
rat-at-at
irrational
dringen sie randalierend über die Hauptstraße des Filmdorfes mit ihren drohenden Bassläufen und schlingernden Doppelschlägen ohne jeden Widerstand in das Innere der Zentralbank
direkt in den Tresor.
 
Das Metall schreit und brüllt. Es glüht und biegt sich, die Haut auf den Trommeln dröhnt, sie brennt und wirft Blasen und immer noch halten die straff gespannten Felle, Saiten und Drähte des Sicherheitssystems, sie schwingen und kreischen in Resonanzen und in Dissonanzen mit den stampfenden Hufen der fliehenden Herde von Rindern, Elefanten, Giraffen und gaffenden Zuschauermassen, bis dass, dass, dass der Bass,
ja der Bass den Schweißbrenner übertönt und die Saxofone prusten laut los und alle stürzen sich taumelnd auf die nackte Beute.


 
Autor:    , 2012 
          alle Rechte vorbehalten
          
     
 

Verspätete Literaturkritik:
Karl Marx und Karl May

Die beiden erfolgreichsten Autoren des 19. Jh. in deutscher Sprache waren Karl Marx und Karl May. Beide lagen noch bis weit ins 20. Jh. hinein an der Spitze der Beliebtheit. Karl Marx war der am meisten zitierte, Karl May der am meisten gelesene.
 
Soviel Erfolg als Autor von Büchern kann nur haben, wer den Lesern etwas bietet, das ihnen mehr zusagt als die Schilderung der Realität. Die Geschichte der Literatur ist gespickt mit Beispielen: Von den ersten großen Romanen der europäischen Literatur, Don Quijote und Robinson Crusoe, bis hin zum Herrn der Ringe und Harry Potter.
 
Karl May erzählt uns Geschichten aus dem Orient, wo er nie gewesen ist, und von Indianern, die er nie gesehen hat, denen er aber, dank seiner Omnipotenz, sowohl körperlich als auch intellektuell, immer überlegen ist. Karl May glaubte offenbar an einen christlichen Gott, an seine eigene Körperkraft und an Waffen. Karl Marx dagegen ist Atheist, er konstruierte eine Ideologie ohne Gott, aber mit Heilsversprechen und dem Paradies in einer nicht all zu fernen Zukunft.
 
Das Besondere an Karl Marx ist, er hat zwar keinen omnipotenten Gott oder Helden, aber diverse Teufel auf der Platte: Die marxschen Teufel sind anonyme Kapitalisten und eine Bourgeoisie, die den Lesern fast auf jeder Seite als Bösewichte begegnen. Die Bourgeoisie und das Kapital sind daran schuld, dass alles so beschissen ist, wie es ist.
 
Das, was Karl May und Karl Marx erzählen, ist Stoff, aus dem die Träume sind. Es ist Erfolgsliteratur und da ist alles erlaubt, was der Unterhaltung, der Erbauung und der Anregung der Phantasie dient. Nichts gegen Karl May und nichts gegen Karl Marx und nichts gegen deren Leser. Aber ist es nicht naiv, alles zu glauben, was da steht?
 
Im Falle von Karl May hat sich die Frage der Glaubwürdigkeit längst geklärt, er gilt als ziemlich verkorkster Phantast. Karl Marx aber hat wieder Konjunktur, weil die Teufel, die er beschworen hat, wunderbar in die neoliberale Zeit passen. Man kann sie sogar beim Namen nennen:

Die Liste ließe sich fortsetzen wie die Liste der Helden von Karl May:
Old Shatterhand,
Old Firehand,
Kara Ben Nemsi,
Winnetou...

                                         
                                         10.01.2020

Der Wert des Geldes und
der Wert der Armut

Diese Kurzgeschichte in Form eines Gesprächs erschien 2006 in der Literaturzeitschrift KLIVUSKANTE.
Titelbild weiter unten

Es war ein wolkenverhangener Morgen, der die Leute kaum aus den Betten ließ. Jan Schmidt hatte gerade seinen ersten Kaffee getrunken und hörte ein kurzes Klingeln an der Haustür. Dort fand er einen grünlich-grauen Brief, der nichts Gutes zu bedeuten schien. Jemand offizielles teilte ihm schlicht und ergreifend mit, dass sein Stipendium für das Studium der Philosophie nach diesem Semester auslaufen würde. Peng, Ende; ein Verwaltungsakt, keine Chance Einspruch zu erheben.

Jan war Philosophie-Student in einem viel zu hohen Semester, das wusste er. Vorsorglich hatte er sich schon einen Job in dem griechischen Studentenrestaurant BEIM ZEUS besorgt, und er hatte es gut getroffen: Der Wirt Xenos war ein abgesprungener Mathematiker und heimlicher Philosoph, mit ihm ließ sich trefflich reden und diskutieren, aber auch die Wirtschaft lief nicht schlecht, dank seiner Frau Luzia, die Küche und Restaurant voll im Griff hatte. An drei Tagen der Woche kellnerte Jan dort in der Mittagszeit, während Luzia den Getränkeausschank und die Kochgehilfen beaufsichtigte. Xenos der Wirt war BEIM ZEUS der Mann für die späten Abendstunden, wo er wie ein platonischer Fels hinter der Theke stand, Reggae-CDs auflegte und bis in die tiefe Nacht mit den Gästen über Gott und die Welt diskutierte.

Der Ex-Mathematiker Xenos führte auch die Buchhaltung und die Geldgeschäfte BEIM ZEUS. Er war jetzt für das Anliegen von Jan zuständig, weil der mehr Geld brauchte, um sein Studium ohne Stipendium zu Ende zu bringen. Jan fragte also die Frau Wirtin, nachdem er von elf bis halb drei gekellnert hatte, ob er Xenos sprechen könnte, und Luzia zeigte ihm die Treppe zur Wohnung über dem Restaurant, wo Xenos am Nachmittag fast immer in seinem winzigen Büro saß. Was er dort machte, wusste keiner, außer seiner Frau.

Jan stieg die steinerne Treppe hoch und fand die Tür zur Wohnung nur angelehnt; trotzdem klopfte er vorsichtig an und Xenos rief,
"die Tür ist auf!"
Er ging also weiter.
"Hallo Xenos, wie immer bei der Arbeit?"
"So kannst du es sagen, was führt dich zu mir, hat Luzia dich geschickt?"
"Sie hat mir den Weg gezeigt, ich wollte dich sprechen, wegen Geld."
"Oh Geld? Davon gibt es ja zu viel auf der Welt." Jan ließ sich nicht beirren:
"Ich habe viel zu wenig davon; sie haben mir das Stipendium gekappt."

"Zu wenig Geld", sinnierte Xenos, "hast du wenigstens Zeit?" und er schob ihm mit dem Fuß einen Schemel zu.
"Zeit habe ich wahrscheinlich mehr als du. Noch bin ich ja Student. Wenn Zeit wirklich Geld ist, müsste für mich bei mehr Zeiteinsatz was zu holen sein."
"Was du nicht sagst!" Xenos verfiel in den Ton eines Dozenten. "Der Spruch 'Zeit ist Geld' stimmt vorne und hinten nicht, für Geld bekommst du keine Zeit und meistens für deine Zeit auch kein Geld, obwohl es zu viel davon gibt."
"Zu viel Geld?" fragte Jan unsicher.
"Ja. Es gibt zu viel davon", stöhnte Xenos, "und erklär mir mal, was am Geld überhaupt so interessant ist?"

Jan dachte kurz nach.
"Ich könnte meine Studiengebühren bezahlen und die Miete, Klamotten und Schuhe und ich kann abends irgendwohin gehen, zum Beispiel in euer Restaurant BEIM ZEUS."
"Richtig, was du da beschreibst, das ist der universelle Tauschwert des Geldes; du kannst alles dafür kaufen, aber die besten Dinge im Leben sind frei! Luft, Sonne, Regen, das Leben selbst, es kostet keinen Cent." Jan schluckte.
"Du hast recht, aber Geld ist für mich absolut wichtig, jedenfalls jetzt, wo ich kein Stipendium mehr kriege." Xenos macht eine abwehrende Handbewegung.
"Geld wird maßlos überschätzt und hast du dich schon mal gefragt, wie das kommt?" Bei dieser Frage begann Xenos mit den Fingern unangenehm auf den Schreibtisch zu trommeln und Jan konnte nicht ausweichen.


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"Geld ist wohl so wichtig, weil ich alles dafür bekommen kann."
"Das ist es nicht genau, mein Freund. Jeder Deal ist ja ein Tausch. Ich tausche ein Fahrrad gegen einen Kinderwagen..."
"Kriegt ihr ein Baby?"
"Nicht dass ich wüsste. Aber wer ein Fahrrad eingetauscht hat und will wieder zu Fuß gehen, der muss schon Glück haben, um das Fahrrad gegen ein Paar Schuhe zurück zu tauschen; das ist nicht so einfach!"

Dem Philosophiestudenten dämmerte es:
"Da ist er mit Geld natürlich besser dran, das nimmt jeder, wenn er Schuhe verkaufen will, ein Fahrrad aber nicht."
"Siehst du, das ist es, so entsteht der Eindruck, dass Geld immer ein wenig mehr wert ist als alle anderen Sachen, weil jeder es gerne nimmt."

Und obwohl Jan darauf hinwies, dass auch er gerne Geld haben würde, weil er bald keins mehr bekäme, fuhr Xenos fort, ihm zu erklären, dass Geld keinesfalls mehr wert sei als alles andere, Geld sei vielmehr ein durchschnittlicher Wert wie gängige Konsumgüter, also Bier, Joghurt und Fruchtschnitten, all das, was leicht für Geld zu bekommen ist. Die Läden seien voll von Süßigkeiten, Knabber-Artikeln und sinnlosen Milch-Produkten; das alles sei ohne Weiteres für Geld zu bekommen. Wenn einer aber frische Luft oder Ruhe haben wolle, müsse er schon selbst Anstrengungen unternehmen. Geld sei dann nur eine Nebensache und auf einmal weniger wert als gute Luft. Auch gutes Essen sei nicht mehr so leicht zu kriegen, für blankes Geld, meinte Xenos der Wirt.

Jan nickte etwas müde, wollte aber nicht widersprechen. Seine Blicke schweiften in dem winzigen Raum umher und suchten nach irgendeinem Anhaltspunkt, um auf sein Thema zurückzukommen. Die Augen blieben an einem Druck hängen, der ein berühmtes Gemälde von Van Gogh mit vier oder fünf gelben Sonnen darstellte. Er deutete auf das Bild und sagte listig:
"Der arme Vincent, manchmal hat er die Farben direkt aus der Tube auf die Leinwand gedrückt, er hatte nicht mal genug Geld, um neue Pinsel zu kaufen."
"Richtig! Er hat kein einziges Bild verkauft, und heute zahlen sie zwanzig Millionen Dollar für einen halben Quadratmeter Leinwand mit seiner Signatur, da siehst du, was für eine lächerliche Rolle das Geld spielt, wenn es um Gegenstände der Kunst geht, weil sie Geld in beliebiger Menge vermehren können, Kunst aber nicht. Der Wert des Geldes gegenüber so einem Gemälde ist jetzt fast gleich null. Er könnte sich 10 Millionen Pinsel dafür kaufen. Und wie viel Geld es auf der Welt gibt, dafür existiert überhaupt keine Grenze, täglich wird es mehr und mehr und immer mehr, aber klares Wasser wird inzwischen knapp auf dem Planeten."

"Ein Glas Wasser wäre nicht schlecht", meine Jan und er wollte aufstehen, um unten im Restaurant etwas zu holen. Aber Xenos hielt ihn zurück und öffnete den einzigen Schrank, der in seinem Büro stand, dort kramte er eine Sprudelflasche und zwei Gläser hervor; dann goss er die beiden Gläser voll. Jan schluckte langsam und ein wenig gestärkt fuhr er fort.
"Mir wäre mit zwei Hundertern zusätzlich im Monat schon geholfen..."
"Du hast Recht", bestätigte der Wirt, "mehr als ein paar hundert Euro im Monat braucht kein Mensch zum Leben, aber die Jagd nach dem Geld endet nicht da, wo die Jagd nach Nahrung oder die Suche nach einer Behausung endet! Solche Bedürfnisse enden mit ihrer Befriedigung. Die Jagd nach dem Geld endet nie! Besonders bei diesen Spekulanten, die sich nicht die geringste Sorge um den normalen Lebensunterhalt machen. Die Finanzakrobaten sitzen an ihren Terminals und schieben hundert Millionen herum, so als wäre es Spielgeld. Und riesige Geldmengen schwappen um den Globus von New York nach Hong Kong und von Tokyo nach Frankfurt."

Jan fragte den Meister, durch dessen Enthusiasmus angeregt:
"Wie erklärst du denn, dass sie trotzdem den Dollars hinterher rennen,
so als ginge es um das nackte Überleben, wie Verhungernde, die ein Stück Brot brauchen, oder wie ich, der seine Miete bald nicht mehr bezahlen kann? Das ist doch irrational. Warum lassen sich Menschen, die schon alles haben, durch die Aussicht auf noch mehr Geld dermaßen reizen? Und dabei vergessen sie völlig die Not von Milliarden anderer Menschen, die nicht mal das Nötigste zum Leben haben!"

"Nein!", rief Xenos dazwischen, "die Not der Hungernden vergessen die Geldmacher doch nicht! Die Armut überall auf der Welt, die brauchen sie!"
"Was? Die Finanzleute brauchen Armut?" Der Gedanke erschien Jan völlig absurd und Xenos genoss sichtlich seine Überraschung.

"Ja, natürlich, brauchen sie das, sonst wäre doch ein Widerspruch in diesem System: Höchste Bewertung des Gelderwerbs, wo doch alle persönlichen Bedürfnisse befriedigt sind und eine riesige Geldmenge zur Verfügung. Das kann nur dann funktionieren, wenn auf der anderen Seite Milliarden Menschen in Armut leben und diese Menschen um einen winzigen Geldbetrag kämpfen, der ausreichen würde, die nächste Mahlzeit für sich und die Kinder zu bezahlen."

Jan schaute Xenos entgeistert an und sagte nichts mehr und der Wirt beantwortete Fragen, ohne dass sie gestellt wurden.

"Die reale Situation, wo die Armen immer ärmer werden und die Reichen immer reicher, die erzeugt auch bei den Reichen eine Panik, weil sie glauben, genau so dringend die doppelte Menge Geld zu benötigen wie die anderen ihren winzigen Lebensunterhalt. Das ist kein Widerspruch, sondern da entsteht eine reale Spannung wie in der Elektrizität. Diese Spannung existiert nicht nur in den Köpfen, sondern sie ist Wirklichkeit in jedem Land der Dritten Welt: Die Ghettos und die Paläste sind nur durch einen durchsichtigen Zaun getrennt. Die sichtbare Not der Massen ist die psychologische Voraussetzung für die rücksichtslose Gier nach Geld. Immense Armut im Angesicht des Reichtums, immenser Reichtum im Angesicht der Armut; das ist Polarisation, die immer größere Geldströme zum Fließen bringt."

Jetzt hatte Jan Schmidt wirklich sein eigenes Geldproblem vergessen und er fragte den Herrn Kneipen-Philosophen irritiert:
"Meinst du das wirklich? Die Armut der Massen ist bei den Reichen der Antrieb für immer größere Geldsucht?"

Zufrieden mit dieser Frage lehnte Xenos sich zurück und mit dem Kopf an die Wand und er begann etwas ruhiger und genauer zu erklären:
"Es ist nicht ganz so einfach, dann würde es ja jeder merken. Die Tatsache, dass auf dieser Erde Milliarden Menschen fast ohne Geld und ohne Einkommen leben, während ein kleiner Anteil der Erdbevölkerung fast alles besitzt, das erzeugt erst die Spannung im Geldsystem; Spannung durch Polarisation. Der Stress ist am größten bei den ganz Armen und den ganz Reichen. Deshalb kämpfen die Superreichen mit aller Macht darum, noch reicher zu werden; sie führen sogar Kriege, um noch mehr Geldquellen in den Griff zu bekommen."

"Es sieht wirklich so aus, wie du sagst, aber eigentlich müsste für diese Leute doch Geld ziemlich uninteressant geworden sein, weil es noch nie soviel Geld gegeben hat und weil sie auch selber noch nie soviel besessen haben."
"So könnte es sein. Wenn es nicht auf der anderen Seite diese enorme Armut gäbe. Durch die extreme Polarisation des Besitzes, und weil das jeder weiß, kann auch bei den Reichen eine latente Angst vor Armut und Hilflosigkeit bestehen bleiben. Diese unterschwellige Angst ist der Auslöser für die grenzenlose Gier."

"Ich wäre ja dafür", schob Jan erleichtert dazwischen, "ich wäre dafür, dass diese Polarisation, wie du es nennst, etwas verringert würde, wenigstens schon mal in meinem Fall, indem ich beim Kellnern in eurem Restaurant etwas mehr Provision bekomme. Würde dann die Freie Wirtschaft zusammenbrechen?"
Xenos lächelte etwas gequält:
"Natürlich nicht, Witzbold, auf keinen Fall. Die Freie Wirtschaft hat es schon immer gegeben; sie braucht nicht diesen Superkapitalismus. Mit etwas weniger Polarisation würden die Extreme verschwinden: die ganz große Armut und das ganz schnelle Geld. Und die riesigen Geldmengen würden nicht mehr so schnell und hektisch zirkulieren. Vielleicht würde Geld auch etwas weniger wert, weil ja schon überall auf der Welt zu viele Dollars vorhanden sind. Auch würden sie dann nicht mehr so mit ihren Milliarden nach Aktien gieren, die jetzt schon an der Börse ein Vielfaches von dem wert sind wie alles, was real dahintersteckt."

Jan war jetzt endlich an der Stelle angekommen, wo er die ganze Zeit hin wollte:
"Das fände ich sympathisch, so eine kleine Entspannung der Lage. Mit meinem Wunsch nach etwas mehr Lohn liege ich also tendenziell richtig."
"Dass so etwas kommt, hätte ich mir denken können!" bemerkte Xenos mit einem Lächeln in den Augenwinkeln, "ich sage überhaupt nicht nein. Oder habe ich nein gesagt? Du musst versuchen, bei Luzia unten mehr Termine zu bekommen, und ich werde in Zukunft einen progressiven Prozentsatz bei der Kellner-Provision einführen: Wenn wir besonders guten Umsatz machen, bekommt ihr nicht nur 10% sondern auch 12 oder 15% Provision, weil sich bei höheren Umsätzen für uns der Ertrag steigert. Du hast Glück, dass Luzia und ich keine Share-Holder sind."
"Natürlich seid ihr das nicht, wenn ihr Super-Kapitalisten wäret, hättet ihr bestimmt kein Studenten-Restaurant aufgemacht."
"BEIM ZEUS! Du sagst es."

Autor:     2006 
          alle Rechte vorbehalten
          letzte Änderung: 01.06.2017
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Heimkehr in das Paradies
Trauer in Kenia, im Lande der Luo

Die Luo sind ein afrikanisches Volk, das überwiegend am Victoriasee in Kenia und Tansania lebt. Viele ihrer Familiennamen beginnen mit einem "O": Odinga, Obama oder Omolo.
Letzteres ist der Name der Großfamilie, von der hier erzählt wird.

Anna Omolo hatte zehn Kinder geboren und acht davon großgezogen, sechs Töchter und zwei Söhne. Sie war hoch angesehen in der Gegend; denn wenn Töchter heiraten, gibt es für die Eltern einen Brautpreis, wenigstens acht oder zehn Kühe, die der Schwiegersohn auftreiben muss. Die Zahl der Kühe steigt, wie das Ansehen der Familie steigt, und das Ansehen der Familie steigt mit der Zahl der Kühe, ganz besonders dann, wenn ein Farmer wie der vor gut einem Jahr verstorbene Joseph Ochien Omolo nicht nur eine stattliche Frau und sechs Töchter hat, sondern auch ein paradiesisches Stück Land besitzt, mit Mais und Zuckerrohr und Wiesen, auf denen all die Kühe satt werden.

Für Irena, die jüngste Tochter musste ihr Bräutigam, ein Arzt aus Kisumu, sechzehn kräftige Rinder bieten. Doch Irena hatte ihren Mann und die Kinder vorübergehend verlassen, um in Europa Geld zu besorgen. Und dann kam die Nachricht vom Tod der Mutter und alles Geld, was sie hatte, reichte gerade für ein Flugticket, eine Digitalkamera für ihren Mann, und es blieben noch zweihundert Euro, die sie zur Finanzierung der Beerdigungskosten beisteuern wollte. Denn umsonst ist der Tod in Afrika nicht: Eine sinnlose Operation, drei Wochen Krankenhausaufenthalt in Nairobi, und schon kommt eine Summe zustande, die das Jahresgehalt einer Polizistin oder eines Polizisten übersteigt.

Als Irena auf dem Kenyatta-Flughafen gelandet war, wurde sie von ihren Kindern, ihrem Bruder Benjamin, drei Neffen und ihrer Schwester Sarah umarmt und von all ihren Tränen beinahe erstickt. Ihre erste Heimkehr nach Kenia hatte sie sich ganz anders vorgestellt.
"Wo liegt Mama?" konnte sie schließlich hervorbringen.
"Im Leichenhaus, wir haben das Geld für das Hospital noch nicht zusammen."

Sie wusste, was das zu bedeuten hat, sie war ja selber Krankenschwester. So lange die Rechnung nicht bezahlt ist, bleiben die Toten tief gekühlt im Leichenhaus. Manche Tote warten dort Wochen und Monate auf ihr Begräbnis, bis irgendwann die Großfamilie den geforderten Betrag zusammenbringt. Die Summe steigt ständig, weil jeder Tag Kühlung zusätzliches Geld kostet. Die reichsten Familienmitglieder zahlen zuletzt, erst dann, wenn es gar nicht mehr anders mehr geht, sie warten, bis schließlich die Gerüchte unter den Nachbarn sich wie Leichengeruch verbreiten. Dieser Geruch durchdringt jede Fassade von Geiz und Hartherzigkeit, bis schließlich Erbarmen herrscht.

"Du hast zweihundert Euro, das sind nur zwanzigtausend Shilling. Kannst du nicht mehr geben? Wir brauchen noch zweihunderttausend."
"Das Ticket hat achthundert Euro gekostet."
"Und wann fliegst du zurück", fragte Sarah.
"Ich fliege nicht mehr zurück. Ich will hier bleiben, bei meinen Kindern." So sagte Irena und das Gespräch über ihr Geld war damit beendet.

Schwester Sarah arbeitet bei der Polizei. Die Polizei ist fast das einzige, was in diesem Staat richtig funktioniert, sie wird zum Dank dafür sehr schlecht bezahlt. Doch Sarah kann sehr wohl helfen. Sie besorgt einen großen Geländewagen für den Transport des Leichnams. Das ist keine Kleinigkeit; denn es sind vier- bis fünfhundert Kilometer hinauf zum Viktoria-See, wo das Haus und die Felder der Eltern liegen, und zwei uniformierte Kollegen werden als Fahrer mitkommen, das alles ist völlig kostenlos. Und der Wagen hat Format, es ist ein langgestreckter Pick Up, dunkelblau, mit sehr geräumiger Ladefläche, hinten von einer Plane überdeckt. Die sechs Schwestern können dort während der Fahrt neben dem Sarg der Mutter Platz nehmen.

Da ist außerdem noch ein Bus zu mieten für die vielen anderen Verwandten, die inzwischen in der Hauptstadt leben, einschließlich der Enkel und Urenkel. Die Trauerfeier wird drei Tage lang dauern, der Bus muss also für fünf Tage gemietet werden, dazu Lebensmittel für zweihundert oder dreihundert Personen. Aber zuerst die Krankenhausrechnung, das allein sind jetzt noch mehr als hunderttausend Shilling. Ohne dieses Geld gibt es nicht einmal einen Leichnam und auch keinen Termin für die Beerdigung.

Der jüngere Bruder, Pastor Benjamin Omolo ist ein begnadeter Prediger, der in Nairobi schon vor Jahren seine eigene Kirche gegründet hat, die Erlöserkirche der letzten Tage. Sie hat drei Gemeinden mit über tausend Anhängern. Seine Mutter hatte für diese Art der wilden Religiosität immer nur ein schiefes Lächeln übrig; sie war Katholikin, noch von Missionaren erzogen. Ben ist in der Lage mit seinen Predigten Menschen zu berühren und dabei nicht nur die Wiederkehr Christi zu verkünden, sondern auch beachtliche Summen an Geld zu sammeln. Zum Beispiel auch für die Beerdigung seiner Mutter. Ein Abgeordneter des Parlaments aus Nyanza, dem Heimat-Distrikt des Clans soll fünfzigtausend Shilling gespendet haben.

Als der Vater starb, war alles ganz anders. Er war fast neunzig Jahre alt, lag ein paar Tage im Bett und stand eines Morgens wieder auf. Mit unsicheren Schritten ging er auf die Veranda hinaus und sein Blick schweifte über das Flusstal zu den Bergen hin. Ein kleines Paradies, begrenzt von bewaldeten Bergen. Diese Berge sehen fast wie Hügel aus und sind doch mehr als dreitausend Meter hoch, weil das ganze Land an der Quelle des Nils so hoch liegt. Joseph Ochien richtete seinen Blick zu den Bergen und in den Himmel, da sah er etwas, das sonst niemand außer ihm sehen konnte.


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Er ging alleine die Stufen zur Wiese hinunter, um noch besser in den Himmel blicken zu können, trat ein paar Schritte vor, zu den Felsbrocken hin, wo seine jüngsten Enkel und ein Urenkel spielten, und auf einmal sackte er zusammen und lag einfach da, die Augen weit geöffnet, nach oben in den Himmel gerichtet.

Einen glücklicheren Tod konnte sich niemand vorstellen. Keine Krankheit, keine Ärzte, kein Hospital, keine Probleme. Seine Frau Anna dagegen hatte schon seit längerer Zeit Schmerzen im Rücken, das kam vom vielen Arbeiten auf den Feldern. Sie blieb stolz, hielt den Kopf hoch, den Rücken steif und beklagte sich nicht. Nach dem Tode ihres Mannes bekam sie es auch am Herzen, das konnte sie nicht mehr verbergen. Da wurde sie von Benjamin nach Nairobi geholt und schließlich ins Krankenhaus gebracht.

Vor dem Hospital befindet sich ein offener Versammlungsraum; da treffen sich, wenn die Toten zur Beerdigung freigegeben werden, die nächsten Angehörigen. Es gibt eine kleine Totenfeier im engsten Familienkreis. Der Sarg wird geöffnet. Sie trauern laut, einige tanzen langsam im Kreis, andere knien sich nieder, halten den Rand des Sarges fest und schauen den Toten direkt ins Gesicht. Die Gesichter sind dunkler als die der Lebenden; denn die Leichen wurden erst einbalsamiert und dann eingefroren, es scheint, dass sie tiefer schlafen als alle anderen Toten. Viele Familien laden dann den Sarg auf das Dach ihres Autos. Die Reise geht aufs Land zum Heimatdorf der Verstorbenen, wo sie auf dem eigenen Boden bestattet werden.

Um den Sarg der Mutter Omolo waren fünfzig Personen versammelt, von denen wollten die meisten später in dem Bus fünf Tage mit aufs Land fahren, einige hatten eigene Autos. Sarah, Irena und die anderen Schwestern setzten sich in das dunkelblaue Polizeifahrzeug zu beiden Seiten des Sarges. Die Fahrer warteten respektvoll, aber sie drängten auch darauf, dass die Fahrt endlich los ging, damit sie ihr Ziel noch vor Einbruch der Dunkelheit erreichen konnten. Nur eine der Schwestern fehlte noch, sie wohnt in der Stadt Kisii, die direkt am Wege liegt.

Die letzten Formalitäten am Ausgangstor des Hospitals für die Freigabe der Beerdigung wurden von Pastor Ben erledigt, dazu musste er die bezahlte Krankenhaus-Rechnung vorlegen, und dann fuhr der Transport raus aus der Stadt nach Norden in die Berge, wo Gemüsebauern wie immer am Straßenrand hockten und ihre Waren verkauften. Dort wachsen an den kühlen Hängen für Afrika so exotische Dinge wie Weißkohl, Erbsen, Möhren und gelbe Pflaumen.

Der dunkelblaue Polizeiwagen ist mit einem roten Banner als Leichentransport gekennzeichnet. Die Frauen, die mit ihren Körben und Tüchern am Straßenrand sitzen und Gemüse verkaufen, lassen bei diesem Anblick die Hände sinken, sie neigen die Köpfe und pressen ihre Kinder fester an die Brust, einige bekreuzigen sich. Hinten auf dem Wagen unter der Plane haben die fünf Schwestern begonnen, laut zu beten und religiöse Lieder zu singen; sie singen in drei Sprachen: Englisch, Luo und Kiswahili, wenn die Mutter noch leben würde, wären es vier; Anna Omolo konnte lateinische Kirchenlieder singen, obwohl sie nur vier Jahre zur Schule ging. Als sie gerade sechzehn war, hatte sie Joseph Ochien geheiratet, der schon ein richtig erwachsener Mann war.

Wenn die Frauen hinten auf dem Wagen für eine Weile verstummen, singen die beiden Polizisten als Repräsentanten der männlichen Angehörigen, obwohl sie keine Verwandten sind. Hinten auf dem Pick Up, bei der weiblichen Leiche sind nach den Gesetzen der Luo keine Männer erlaubt.

Es ist eine Fahrt quer durch das ganze Land. Senkrecht steht die Sonne am Mittag und keiner beachtet die Hinweisschilder auf den Äquator. Keiner sieht die vulkanischen Berge und Täler, die Kraterseen und die schwach rosarote Wolke der Flamingos, keiner winkt den Affen, die mit ihren obszönen Gesten am Straßenrand auf Bäumen und Felsen hocken, unbeachtet bleiben Zebras in der Steppe und niemand taucht seine Blicke in die ultragrünen Matten der Teefelder in 2500 Metern Höhe.

Städte werden von der Durchgangsstraße kaum berührt. Sie sind aus der Ferne zu erkennen: Nakuru, Eldoret, Kericho, dann Kisii. In Kisii wohnt die sechste der Schwestern. Durch diese Stadt geht die Route mitten hindurch.

Es ist spät am Nachmittag, die Kraft der Sonne hat nachgelassen. In einer Straßenkurve flaniert schon eine junge Prostituierte auf Kundenfang. Mit aufreizendem Gang geht sie langsam in die gleiche Richtung die Straße hinunter wie der dunkelblaue Polizeiwagen mit dem Sarg, das Mädchen ist etwa fünfzehn Jahre alt und scheint leicht betrunken zu sein.
"Hier links rein, da wohnt Ruth."
"Nein, es ist die nächste Straße, ich glaube, hier."
"Hoffentlich ist sie jetzt zu Hause. Wir haben nicht viel Zeit, auf sie zu warten."

Sie parken den Pick-Up am Straßenrand. Die beiden Fahrer verschwinden in einem Restaurant und die Frauen gehen ihre Schwester suchen, die noch nichts davon weiß. Das Strichmädchen hat sich beschämt verdrückt. Mit der Polizei und mit dem Tod will sie nichts zu tun haben, aber AIDS ist überall, das sagen die Plakate die hier noch an den Hauswänden kleben. Die Poster sind alt und ziemlich vergilbt; AIDS haben sie hier schon fast wieder vergessen.

Nach einer halben Stunde tauchen alle wieder auf. Ruth war einmal die schönste der Schwestern; jetzt ist sie nur noch von Tränen überströmt und völlig fassungslos. Vorsichtig wird sie von den anderen neben den Sarg ins Auto gesetzt.

"Wie weit ist es noch?" fragt der junge Polizist, der sich jetzt ans Steuer gesetzt hat.
"Es ist ungefähr so weit wie Kisumu, aber vorher ein Stück ins Land rein."
"Wie weit geht die Piste ins Land?"
"Eine gute Stunde zu Fuß."
"Also fünf oder sechs Kilometer, wir müssen da noch vor Dunkelheit durch. Hoffentlich regnet es nicht. Wenn die Erde aufweicht, wird die Fahrt zu schwierig."

Die Straße schlängelt sich durch Kisii an der grün glitzernden Moschee und dann am Markt vorbei. Der Markt ist menschenleer und nur an den riesigen Haufen von Abfällen zu erkennen. Danach geht es durch eine parkartige Landschaft voller Blumen und Bananenstauden in die Berge. Mal steht die Sonne rechts, mal links, mal scheint sie dem Fahrer direkt in's Gesicht, so dass er die Schlaglöcher und die gefährlichen Straßenwellen kaum erkennen kann. Und da! Vorsicht! Auf der Straße liegt etwas! Scharfes Bremsen, der Sarg rutscht, die Frauen kreischen. Der Wagen kann gerade noch ausweichen.

Auf dem rauen Asphalt liegt der leblose Körper eines jungen Mannes, äußerlich nur am Kopf verletzt, aber wahrscheinlich ist er schon tot. Der Anblick wäre ein Schock, wenn sie nicht mit der Leiche der Mutter unterwegs wären. Der Mann liegt mitten auf der Fahrbahn, überfahren durch einem LKW, oder er ist von einem überladenen Kleinbus heruntergefallen - vielleicht auch beides.

Die zwei Polizisten können nicht einfach vorbeifahren, sie müssen etwas unternehmen. Zum Glück haben sie ein Handy und entlang dieser Straße gibt es eine lückenlose Funkverbindung. So erreichen sie die zuständige Polizeistation in zwanzig Kilometern Entfernung. Die Kollegen wissen aber schon, dass da einer liegt. Eine Streife ist bereits unterwegs, es gibt nichts zu tun, als ein Warndreieck aufzustellen. Ein paar einheimische Burschen sind aufgetaucht, die sollen den Toten bewachen, bis die Streife kommt.

Die Sonne steht jetzt nur noch zwei Finger breit über dem Horizont. Wenn sie den Horizont berührt, wird es sehr schnell dunkel. Alle sind müde und sehr still nach der langen Fahrt. Sarah schaut immer wieder von hinten durch die Trennscheibe zu den Fahrern und weiter nach vorne auf die Straße, um die Stelle zu finden, wo der Weg zu ihrem Elternhaus abbiegt. Und endlich erreichten sie die Abzweigung bei Sonnenuntergang.
"Da vorne, vor dem roten Haus, da geht es nach rechts!"

Die Fahrt ins Gelände beginnt. Gut aufpassen und festhalten, tiefe Fahrrinnen, schroffe Steine, es geht kaum schneller als zu Fuß. Die Erde ist rot und sehr feucht, hier hat es kürzlich noch geregnet. Alles zieht sich in die Länge, der Weg, die Schatten, die Trauer, das Leben, die Gedanken. Die Schönheit der Landschaft wird zum Traum.

Zuckerrohrfelder. Sie sehen harmlos aus wie riesige wilde Wiesen. Nach drei Jahren kommt eine Kolonne junger Männer mit ihren Macheten, die das Zuckerrohr schlagen, es ist dann so stark wie eine kräftige Bambusstange. Auf den Feldern bleibt alles liegen, was nicht wenigstens zwei Finger dick ist. Das wird von den Kindern gewisser Familien eingesammelt.

Die Eltern brennen daraus einen vorzüglichen Schnaps, er wird zweimal destilliert und dann in Bierflaschen gefüllt. Ein halber Liter kostet vierzig Shilling, etwa 40 Cent in europäischer Währung. Der Schnaps ist natürlich illegal. Aber wen kümmert das? Die Polizei hat nicht einmal die Möglichkeit, Alkohol im Blut festzustellen. Kein Wunder, dass ein Viertel aller Männer in dieser Gegend Alkoholiker sind, und tödliche Autounfälle wegen betrunkener Fahrer gibt es an jedem Wochenende. Das Schlimmste tritt ein, wenn ein Matatu, so ein Minibus, der zwanzig Personen transportiert, in einen Unfall verwickelt wird. Besser gar nicht daran denken.

Auf einmal schlägt Sarah mit der flachen Hand gegen die Zwischenwand zwischen dem Laderaum und der Fahrkabine und schreit laut:
"Wir sind da! Leute, wir sind da!"

Der Fahrer dreht seinen Kopf etwas zur Seite und nickt mit einer leichten Verbeugung; er weiß, was er zu tun hat: Langsam und gleichmäßig beginnt er im Sekundenabstand mit der lauten Polizeihupe zu tuuten. Tuut, tuut, tuut, tuut...

Ein paar buntgekleidete Frauen tauchen links zwischen den Büschen auf. Sie sehen das Auto und fangen sofort an zu kreischen, so laut sie können, ganz hoch und schrill, lebendige Trillerpfeifen. Erst sind es drei, dann zehn, dann dreißig dann hundert, es will nicht aufhören, von allen Seiten kommen Frauen und Mädchen, die irgendwo an der Piste zwischen Büschen und dem Haus den ganzen Tag gesessen und gewartet haben und alle schreien, so laut sie können, diesen Trillerpfeifen-Ton. Ein Schrei des Schmerzes, der aus der Erde kommt, aus den Steinen des Weges und aus der brennenden Sonne, der Schmerz des Todes und der Geburt und der ewigen Wiederkehr des Gleichen.

Als das Haus links auftaucht, sind es bald zweihundert Frauen, Mädchen, Kinder und ein paar junge Burschen, alle laufen zusammen, umringen den Leichenwagen. Die am nächsten sind, strecken die Arme aus und versuchten mit ihren Händen das Blech des Autos zu berühren. Jede der Frauen schreit und moduliert ihren Ton ein wenig anders und das steigert sich zu einer grellen Disharmonie. Es schwillt an zum schrillsten und lautesten Schrei, den ein Mensch je gehört hat.

So könnten die Fanfaren des Gerichtes klingen, wenn am jüngsten Tag die Toten auferweckt werden. Aber es war der dreißigste Oktober des Jahres 2013, es wurden keine Toten auferweckt. Wie ein Blitz zuckte es durch die Köpfe: Wer bei diesem Schrei nicht aufwacht, der ist wirklich tot.

Die Mutter Anna Omolo wurde nicht mehr wach, sie war endlich heimgekehrt.

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