Als ich neulich aus dem Fenster sah, war ich sehr beeindruckt, dass dort draußen welke Gräser, auf denen schon Schnee gelegen hatte und wieder geschmolzen war, im Winde spielten und vertrocknete Halme, die vom Wind hin und her getrieben wurden, sich dabei um Zaunpfähle zu wickeln schienen.
 
Und zwischen den welken Gräsern in der Farbe fahlen Schilfs schimmerte versteckt schon das erste saftige Grün von frischen Blättern, die langsam zwar, aber sobald der Frost vorbei ist, doch stetig weiterwachsen, manchmal noch wochenlang unterbrochen durch kältere Perioden. Das lebendige Grün ist zurückhaltend, doch die im Herbst verdorrten Halme zappeln im Wind, so als seien sie die erste Hoffnung des nahen Frühlings.
 
Und im Fernsehapparat neben dem Fenster flimmern unsichtbare kleine Bildpunkte. Jeder ist das Ergebnis eines digitalen Algorithmus, der Farbe und Intensität verschlüsselt hat, ein technisches Zusammenspiel, wodurch es scheint, als würde sich auf dem Schirm ein lebendiges Bild bewegen. Wenn ich aber den Fernsehapparat mit einem Klick abschalte, ist es verschwunden.
 
Dieses Bild verlangt von mir die Illusion, als wäre da ein Auto mitten auf dem Highway, das in die verkehrte Richtung rast, das sich dreht und mit kreischenden Reifen wendet, immer haarscharf an einer vernichtenden Kollision vorbei.
 
Und ich soll ebenfalls glauben, in diesem Auto säße ein lebendiger Mensch. Der gleiche Mann, der etwa dreißig Sekunden vorher eine schöne Mulattin umgebracht hat, nachdem er mit ihr, wieder zehn Sekunden zuvor, im Taumel der Liebe auf einem Bett lag, kaum mit dem Nötigsten zugedeckt.
 
Anscheinend liebten sich diese beiden anscheinend realen Personen, obwohl dazu nicht der geringste Anlass bestand; denn die Sendung hatte erst fünf Minuten vorher begonnen, nach der Werbung.
 
Auf dem Bildschirm geschieht also bruchstückhaft etwas Rätselhaftes, was die logischen Zusammenhänge angeht; das meiste davon soll jetzt aber in meinem Kopf passieren, weil ausgerechnet ich zuschaue, wobei die Verantwortung für die Zusammensetzung der Geschichte dann bei mir liegt und auch die geistige Anstrengung und alle Konsequenzen für meine Phantasie, für die Moral, für meine Gesundheit, meinen Schlaf und die unkontrollierbaren Träume danach. Auch das sorgfältige Einhalten der hiesigen Verkehrsregeln bleibt weiterhin nur meiner eigenen Verantwortung überlassen.
 
Schaue ich aber weg und durch das Fenster nach draußen, sehe ich echtes Gras im Winde flattern und zwischen den verdorrten Halmen und Zaunpfählen kann ich schon wieder lebendiges Gras erkennen, das in einem halben Jahr dort kniehoch gedeihen wird.
 
Schon der Gedanke an diese überwältigend klare Wirklichkeit macht mich die Übelkeit vergessen, welche die rasante Autofahrt auf dem Bildschirm des Fernsehapparates in mir verursacht hatte; denn die ganze Szene war vorübergehend so gefilmt, als sei ich selbst einer der Insassen des in falscher Richtung rasenden Fahrzeugs; ja als sei ich vielleicht selbst der Falschfahrer und damit auch der Übeltäter, der die schöne Mulattin umgebracht hat. Und zu dieser Identifikation kam es vielleicht meinerseits, als die Szene davor noch so verlockend erotisch war.
 
Und während jetzt die anscheinend so gefährliche Autofahrt, bei der auch schon etliche Fahrzeuge älteren amerikanischen Bautyps zu Schaden gekommen sind, entweder ihrem Höhepunkt zutreibt oder durch einen weiteren Werbeblock noch einmal unterbrochen wird, schaue ich, wie um mich zu vergewissern, aus dem Fenster, wo die Dunkelheit noch nicht so weit fortgeschritten ist, dass ich nichts mehr erkennen könnte.
 
Zu meiner großen Überraschung und trotz eines vorübergehenden Zweifels an der Zuverlässigkeit dieser Geschichte oder meiner eigenen Wahrnehmung spielt der Wind noch immer mit dem Gras, das sich um die Zaunpfähle windet.
 
Das verschafft mir eine ungeheure Erleichterung, hatte ich doch befürchten müssen, der Wind habe seine Absicht geändert und würde jetzt mit dem Papier von Zeitschriften wedeln oder mit Verpackungsbeilagen von Elektronikgeräten spielen oder der Wind sei möglicherweise durch ein geophysikalisches Feld ersetzt oder durch einen thermoelektrischen Windmacher, der nur noch Haare trocknet, die mit einer bestimmten Lotion behandelt sind.
 
Aber nichts von all den Befürchtungen ist wahr. Der Wind spielt. Der Pfahl steht, und welkes Gras biegt sich in der klaren, kalten Luft. Und der unverbrauchte Blick auf die dahinter liegende Landschaft tut sich auf.
 
Das macht mich zutiefst glücklich. Ein Glück, das ich mir immer wieder leisten kann. Ein Glück, das nichts anderes verlangt als dieses Fenster zur Wiese hin, einen Fernsehapparat, den ich ausschalten kann, und ein wenig Wind.